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Meister Eckhart:

| Predigt 52 - Beati pauperes spiritu, quoniam ipsorum est regnum caelorum

Artikel:

| Kurt Flasch, Auslegung der Predigt "Über die Armut an Geist"
| Kurt Flasch, Eckharts Absicht
| Ruedi Imbach, Meister Eckhart - Erste Zeugnisse
| Niklaus Largier, "intellectus in deum ascensus". Intellekttheoretische Auseinandersetzungen in Texten der deutschen Mystik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 423-471
| Niklaus Largier, "Die 'Deutsche Dominikanerschule'. Zur Problematik eines historiographischen Konzepts" , in: Geistesleben im 13. Jahrhundert, J. A. Aertsen und A. Speer (Hg.), Miscellanea Mediaevalia 27 (2000), S. 202-213

Rezension:
| Balázs J. Nemes, Neues zu den Fragen der Autorschaft und Kanonizität des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Zu Sara S. Poor: Mechthild of Magdeburg and Her Book. Gender and the Making of Textual Authority. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2004

Vortrag:

| Georg Steer, Ziele und Aufgaben der Meister-Eckhart-Gesellschaft Die Seligkeit selbst öffnete den Mund der Weisheit und sprach: „Selig, die arm sind an Geist, denn ihnen gehört das Himmelreich“.

Alle Engel, alle Heiligen und alles, was geboren wurde, alle müssen sie schweigen, sobald die Weisheit des Vaters spricht. Ist doch allle Weisheit der Engel und aller Geschöpfe reine Torheit vor der unergründlichen Weisheit Gottes. Und sie hat behauptet, die Armen seien selig.

Nun gibt es zwei Arten von Armut. Einmal die äußere Armut. Sie ist gut und hoch zu loben – in einem Menschen, der sie um der Liebe unseres Herrn Jesus Christus willen frei erwählt. Auch er hat sie gehabt, als er auf der Erde war. Von dieser Armut will ich jetzt nicht weiter reden. Aber über sie hinaus gibt es eine Armut, eine inwendige, und auf sie bezieht sich das Wort unseres Herrn, wenn er sagt: „Selig, die arm sind an Geist“.

Nun beschwöre ich euch, ihr möchtet so sein, dass ihr diese Lehre verstündet. Denn bei der ewigen Wahrheit, ich sage euch: Kommt ihr der Wahrheit nicht gleich, von der wir nun reden wollen, dann werdet ihr mich nicht verstehen. Ihr habt mich gefragt, was das Wesen der Armut sei und was ein armer Mensch sei. Darauf will ich antworten.

Bischof Albert lehrt, ein armer Mensch sei der, der kein Genüge findet an allem, was Gott je geschaffen hat. Das ist gut gesagt. Doch darüber hinaus: Ich sage es noch besser und nehme „Armut” in einem höheren Sinn: Ein armer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich heute reden, und um der Liebe Gottes willen beschwöre ich euch, ihr möchtet diese Wahrheit verstehen, wenn ihr könnt. Und versteht ihr sie nicht, so sorgt euch darum nicht, denn ich will von einer Wahrheit sprechen, die so beschaffen ist, dass auch von guten Menschen nur wenige sie verstehen werden.

Erstens also behaupten wir, ein armer Mensch sei der, der nichts will. Diesen Satz verstehen einige Leute nicht richtig. Es sind die Leute, die sich in ihrem Selbstbezug an Bußwerke und äußere Übungen halten. Sie finden, das sei etwas Großes. Mir tun diese Menschen leid. Denn sie begreifen so wenig von der göttlichen Wahrheit. Dem äußeren Anschein folgend, nennen viele Leute sie „heilig”. Aber sie sind Esel. Innen sind sie Esel, denn sie begreifen nicht das Besondere der göttlichen Wahrheit. Auch diese Menschen behaupten, ein armer Mensch sei, wer nichts will. Sie erklären das aber so: Der Mensch soll so leben, dass er nirgends seinen eigenen Willen erfüllt, sondern immer nur danach strebe, wie er den liebsten Willen Gottes erfülle. Um diese Menschen steht es gut, denn ihre Absicht ist gut, deshalb wollen wir sie loben.

Gott gebe ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich. Ich gehe aber noch weiter und behaupte bei der göttlichen Wahrheit: Diese Menschen sind nicht arm, und sie gleichen auch nicht armen Menschen. Leute, die nichts Besseres kennen, achten sie hoch. Aber ich behaupte: Sie sind Esel; von der Wahrheit begreifen sie nichts. Weil sie es gut meinen, werden sie das Himmelreich erlangen, aber von der Armut, von der wir nun reden wollen, verstehen sie gar nichts.

Käme nun einer und fragte mich: Was wäre denn ein armer Mensch, der nichts will?, so antworte ich ihm und argumentiere wie folgt: Solange der Mensch daran festhält, es sei sein Wille, den liebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so lange hat er die Armut nicht, von der wir reden wollen. Denn dieser Mensch besitzt immer noch einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes entsprechen will, und das ist nicht die wahre Armut. Denn der Mensch, der die wirkliche Armut hat, der ist völlig abgelöst von seinem geschaffenen Willen, so wie damals, als er noch nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen besitzt, den Willen Gottes zu erfüllen und solange ihr Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, so lange seid ihr nicht arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts verlangt.

Als ich in meinem ersten Ursprung stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursprung meiner selbst. Da wollte ich nichts. Dort verlangte ich nach nichts, denn ich war abgelöst von ihm und ein Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und sonst nichts. Was ich wollte, das war ich. Was ich war, das wollte ich. Und hier stand ich, abgelöst von Gott und allen Dingen. Aber als ich dann heraustrat aus meinem freien Willen und mein geschaffenes Wesen entgegennahm, da bekam ich einen Gott. Denn bevor die Geschöpfe waren, da war Gott nicht Gott, vielmehr war er, was er war. Aber als die Geschöpfe entstanden und ihr geschaffenes Wesen empfingen, da war Gott nicht mehr Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Geschöpfen.

Nun behaupte ich: Gott, sofern er Gott ist, ist nicht das vollkommene Wesensziel der Geschöpfe. Dazu ist der Reichtum zu groß, den das geringste Geschöpf in Gott hat. Hätte eine Mücke Vernunft und suchte sie mit Vernunft den ewigen Abgrund des göttlichen Wesens, aus dem sie gekommen ist, so könnte Gott, behaupte ich, mit all dem, worin er Gott ist, die Mücke nicht ausfüllen und ihr Genüge verschaffen. Deswegen bitte ich Gott, losgelöst zu werden von Gott und die Wahrheit dort zu ergreifen und die Ewigkeit dort zu genießen, wo die obersten Engel und die Mücke und die Seele gleich sind worin ich stand und wollte, was ich war und war, was ich wollte. Deshalb behaupte ich: Soll der Mensch arm sein an Willen, dann darf er so wenig wollen und verlangen, als er wollte und verlangte, als er nicht war. Und in diesem Sinne ist der Mensch arm, der nichts will.

Zweitens: Der ist ein armer Mensch, der nichts weiß. Irgendwann einmal habe ich gesagt, der Mensch solle so leben, dass er für nichts lebt, weder für sich noch für die Wahrheit noch für Gott. Aber heute will ich anderes und Größeres sagen: Der Mensch, der diese Armut haben soll, der soll so leben, dass er nicht einmal weiß, dass er lebt, für überhaupt nichts, weder für sich selbst noch für die Wahrheit, noch für Gott. Mehr noch: Er soll so abgelöst sein von allem Wissen, dass er weder wisse noch sonstwie erkenne oder wahrnehme, dass Gott in ihm ist. Abgelöst soll er sein von jeder Art der Erkenntnis, die in ihm lebt. Denn als der Mensch im ewigen Wesen Gottes weilte, da war nichts in ihm, was nicht er selbst war, sondern alles, was da war, das war er selber. In diesem Sinne behaupte ich, der Mensch solle abgelöst sein von seinem eigenen Wissen, so wie er es war, als er nicht war. Er lasse Gott wirken, wie Gott will. Der Mensch sei abgelöst.

Alles, was je von Gott herkam, ist bestimmt, sein Wesen durch Wirken rein zu entfalten. Die für den Menschen charakteristische Tätigkeit ist Lieben und Erkennen. Nun entsteht die Frage, worin von beidem die Seligkeit vor allem bestehe. Einige Meister lehren, sie bestehe in der Liebe; andere lehren, sie bestehe im Erkennen und im Lieben, und die reden besser. Aber ich behaupte, sie bestehe weder im Erkennen noch im Lieben. Mehr noch: Es gebe ein Eines in der Seele, von dem Erkennen und Lieben herkommen. Es selbst erkennt nichts und liebt nichts – wie das die Kräfte der Seele tun. Nur wer dieses Eine erkennt, der begreift, worin die Seligkeit besteht. Es kennt weder ein Davor noch ein Danach. Es harrt keiner von außen zufällig erfolgenden Ergänzung, denn es kann weder etwas hinzu gewinnen noch etwas verlieren. Es ist so arm, dass es nicht weiß, dass Gott in ihm wirkt. Ja, es ist selber das selbe, das sich selbst genießt wie Gott sich genießt. Daher behaupte ich, der Mensch solle frei und abgelöst stehen. Er soll nicht wissen und nicht erkennen, dass Gott in ihm wirke. Auf diese Weise kann der Mensch Armut besitzen.

Die Meister lehren, Gott sei Sein und ein vernünftiges Sein und erkenne alle Dinge. Ich aber lehre: Gott ist weder Sein noch ein vernünftiges Sein, noch erkennt er dieses und jenes. Daher ist Gott losgelöst von allen Dingen und deshalb ist er alle Dinge. Wer nun arm sein soll an Geist, der muss arm sein an allem eigenen Wissen, so dass er überhaupt nichts weiß – weder Gott noch Geschöpfe noch sich selbst. Dazu ist es notwendig, dass der Mensch frei darauf verzichte, die Werke Gottes zu wissen oder sonst zu erkennen. In diesem Sinne kann der Mensch arm sein an seinem eigenen Wissen.

Drittens: Arm ist der Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben behauptet, das sei das vollkommene Leben – auf Erden nichts zu besitzen an körperlichen Dingen. Das ist auch wahr in einem gewissen Sinne, wenn einer es freiwillig tut. Aber in diesem Sinne meine ich es nicht.

Ich habe zuvor gesagt, arm sei, wer den Willen Gottes nicht erfüllen wolle, ja, der Mensch solle so leben, dass er abgelöst sei von beidem, von seinem eigenen Willen und vom Willen Gottes, abgelöst wie damals, als er nicht war. Von dieser Armut behaupte ich, es sei die höchste Armut. Zweitens habe ich behauptet, arm sei, wer die Werke Gottes in sich nicht kennt. Wer so lebt, abgelöst von Wissen und Erkenntnis, wie Gott abgelöst lebt von allen Dingen, der hat die durchsichtigste Armut. Aber das dritte, das ist die innerste Armut. Von ihr will ich jetzt reden. Es ist die Armut, in der der Mensch nichts hat.

Achtet darauf mit Ernst. Ich habe es manchmal gesagt, und auch ein großer Meister sagt es: Der Mensch soll derart abgelöst sein von allen Dingen und von allen Werken, äußeren wie inneren, dass er Gottes eigene Stätte werde, in der Gott wirken kann. Doch jetzt sage ich es anders: Löst der Mensch sich ab von allen Geschöpfen, von Gott und von sich selbst, aber Gott findet in ihm noch eine Stätte, darin zu wirken, so behaupte ich: Solange das in diesem Menschen noch so ist, so lange ist er nicht arm in der innersten Armut. Denn es ist keineswegs das Ziel Gottes in seinen Werken, dass der Mensch eine Stätte in sich hätte, in der Gott wirken könne. Denn das ist Armut des Geistes: Abgelöst leben von Gott und seinen Werken, so dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte ist, worin er wirken will – und das tut er gern. Denn findet Gott den Menschen in dieser Armut, dann nimmt Gott sein Wirken in sich selbst auf; er wird die eigene Stätte seiner eigenen Werke, denn Gott ist ein Tätiger, der in sich selbst wirkt. Hier nun, in dieser Armut, da erreicht der Mensch das ewige Sein, das er einst gewesen ist, das er jetzt ist und das er immer bleiben wird.

Doch da entsteht ein Problem. Der heilige Paulus sagt: „Alles, was ich bin, das bin ich durch die Gnade Gottes”. Aber meine Rede steigt höher hinauf – höher als Gnade, als Sein und Erkennen, als Wollen und alles Verlangen – wie kann dann das Wort des heiligen Paulus wahr sein? Hierauf lautet die Antwort: Das Wort des Paulus ist wahr. Er brauchte die Gnade, denn die Gnade Gottes bewirkte in ihm, dass das Zufällige an ihm in sein Wesen einging. Als die Gnade endete, weil sie ihr Werk vollbracht hatte, da blieb Paulus das, was er war.

Also lehren wir, der Mensch solle so arm dastehen, dass er keine Stätte sei und keine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott, da mein wesentliches Wesen oberhalb Gottes steht, sofern wir Gott begreifen als den Ursprung der Geschöpfe. Denn in dem selben Wesen Gottes, aufgrund dessen Gott oberhalb von Sein und Unterschied steht, da war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst und dort erkannte ich mich selbst als den, der diesen Menschen schuf.

Darum bin ich Ursprung meiner selbst, nach meinem Wesen, das ewig ist, nicht nach meinem Werden, das zeitverloren ist. Aufgrund des Werdens bin ich geboren, und sofern ich geboren bin, kann ich sterben. Sofern ich ungeboren bin, bin ich ewig gewesen, bin ich jetzt und werde ich ewig dauern. Was an mir geboren ist, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist zeitverloren, darum muss es in der Zeit zugrunde gehen.

Bei meiner Geburt, da wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursprung meiner selbst und aller Dinge, und hätte ich gewollt, so wäre ich nicht entstanden und alle Dinge wären nicht entstanden. Und wäre ich nicht, dann wäre auch Gott nicht. Dass Gott Gott ist, dafür bin ich der Ursprung. Und wäre ich nicht, dann wäre Gott nicht Gott. Dies muss man nicht unbedingt wissen.

Ein großer Meister lehrt, sein Durchbrechen sei edler als sein Ausfließen, und das ist wahr. Als ich aus Gott herausfloß, da sagten alle Dinge: Gott ist. Aber das kann mich nicht selig machen, denn hierbei bekenne ich mich als Geschöpf. Hingegen beim Durchbrechen – da stehe ich losgelöst von meinem Willen und vom Willen Gottes, von allen seinen Werken und von Gott selbst; da stehe ich oberhalb von allen Geschöpfen. Da bin ich weder Gott noch Geschöpf, ja, da bin ich das, was ich war und bleiben werde, jetzt und für immer. Dabei erfahre ich ein Gepräge, das mich hinaufbringt über alle Engel. Dieses Gepräge gibt mir einen solchen Reichtum, dass Gott mir nicht mehr genügen kann mit all dem, was er als Gott ist und mit allen seinen göttlichen Werken, denn in diesem Durchbrechen erhalte ich es , dass ich und Gott eins sind. Dort bin ich, was ich war. Dort erhalte ich weder etwas hinzu noch verliere ich etwas. Denn da bin ich das unveränderliche Wesen, das alles verändert. Hier findet Gott keine Stätte im Menschen, denn der Mensch erhält aufgrund dieser Armut, was er ewig gewesen ist und immerdar bleiben wird. Hier ist Gott eins im Intellekt, und das ist die innerste Armut, die man finden kann.

Wer diese Rede nicht versteht, der mache sich deswegen in seinem Herzen keine Sorgen. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleich wird, so lange wird er diese Rede nicht verstehen, denn sie ist unverdeckte Wahrheit, wie sie unvermittelt aus dem Herzen Gottes kommt.

So zu leben, dass wir es ewig einsehen, dazu helfe uns Gott. Amen.

Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Kurt Flasch. Die Übersetzung folgt dem neuen mittelhochdeutschen Text, den Georg Steer (Eichstätt) herausgegeben hat in: Loris Sturlese/Georg Steer, Lectura Eckardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Stuttgart 1998, Seite 163–181. Dort auch Seite 182–199 eine mehr fachliche Fassung meiner nachfolgenden Erklärung. Georg Steer verdanke ich wertvolle Verbesserungsvorschläge.

Meister Eckhart - in seiner Zeit. Die Predigt ist Teil einer PDF der Identity Foundation (S. 30-35), der auch andere Texte dieser Seite entnommen sind. Der Ansatz eines Denkers ist nur ein Anfang. Alles kommt darauf an, wie er ausgeführt wird. Dann erst zeigt sich der Bezug eines Denkens auf das konkrete Leben. Dabei erst entfaltet ein Denker die Kunst der Argumentation. Hier sehen wir ihn an der Arbeit. Erst indem wir ein einzelnes Werk Eckharts anschauen, zeigt sich auch die sprachliche Meisterschaft, die ihn zu einem Meilenstein in der Geschichte der deutschen Literatur macht. Daher folgt hier nach einer Skizze von Eckharts Ansatz eine Probe, wie Eckhart gedacht und gesprochen hat.

Diese Predigt läßt sich wie ein Kunstwerk betrachten. Am besten reist man nach Soest, setzt sich still in die Wiesenkirche, die zur Zeit Eckharts gebaut wurde und die durch Klarheit und Konsequenz in der sichtbaren Welt am ehesten dem Denken Eckharts korrespondiert, und macht sich dort zunächst die Gliederung der Predigt klar. Nach wenigen einleitenden Worten gibt Eckhart ihre kristalline Dreiteilung: Arm sind wir, indem wir

  1. Nichts wollen (Steer 168, 21–172, 21)
  2. nichts wissen (Steer 172, 22–174, 22)
  3. nichts haben (Steer 174, 23–176, 18)
Einfacher geht es nicht. Eckhart muss Gründe gehabt haben, den strengen Aufbau im dritten Teil dadurch zu stören, dass er einen Exkurs über Gnade einfügte und eine Paulus-Stelle erklärte, Steer 176, 20–26.

Ein sorgfältiger Leser wird fragen, wieso die dritte Stufe, das Nicht-Haben eine Steigerung bringen kann nach dem Nicht-Wollen und nach dem Nicht-Wissen. Aber dieses Nicht-Haben bezieht sich nicht auf äußere Dinge. Diese abzustreifen gehört zur äußeren Armut. In dieser Predigt bedeutet Armut als Nicht-Haben: Kein Gott-Verhältnis haben. Und dies ist die intimere Stufe im Vergleich zum Nichts-Wollen und Nichts-Wissen.

Das vierzehnte Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert der „Mystik“ und der Pest. Seine ersten Jahrzehnte brachten die größte soziale und ökonomische Expansion, die Europa vor der Industrialisierung erlebt hat. Eben dadurch wurde die Armut sichtbarer. Sie wurde jetzt als Problem empfunden; sie blieb nicht länger der sozusagen „normale“ Zustand einer erbsündigen Menschheit. Franz von Assisi hatte entdeckt: Jesus war einer von diesen Armen. Seitdem plagte den Westen das ethisch-religiöse Problem der Armut. Als Eckhart um 1320 vermutlich in Köln, der reichsten deutschen Stadt, unsere Predigt hielt, stand das Armutsproblem auf der Tagesordnung. Es wäre falsch, das Lob der äußeren Armut zu überhören, das er an den Anfang setzt. Die reale, die freiwillig gewählte Armut, war die Lebenswelt Eckharts, nur heute will Eckhart davon nicht reden.

Heute sucht er einen anderen, einen höheren Begriff von Armut. Er entwertet nicht die freiwillige Armut an äußeren Dingen. Aber diesmal will er die Idee der Armut vertiefen. Die Frage nach dem Wert der Armut und nach ihrem konsequentesten Begriff hat er nicht erfunden.

Das 13. Jahrhundert hat Armut als ethischen, als philosophischen, als christlichen Wert entdeckt. Damit stellte sich die Frage: Wie weit war die Armutsidee zu treiben? Lag es nicht in ihrer Konsequenz, alle Bindungen an Weltdinge fallen zu lassen, jede Absicherung und jeden Außenhalt aufzugeben, sich durch Negation die Welt zu beseitigen und denkend den Aufstieg vollziehen? „Laß alles fallen!“, sagt die plotinische Regel – wie weit konnte man damit gehen? Auf seine Begierden verzichten, das mochte noch angehen, aber solllte, konnte man Absichten, Beschlüsse und Gedanken fallen lassen? Rationalität und Zweckdenken waren seit dem 12. Jahrhundert lebensbestimmende Mächte geworden – durch Kirchenorganisation und Papstpolitik, durch Geldwirtschaft und bürgerliche Haushaltsführung in den Handelsstädten, nicht zuletzt durch die Scholastik. Musste, wer arm sein wollte, aus all dem aussteigen? Wo aber kam man dann hin?

1311 ging Meister Eckhart zum zweiten Mal als Magister nach Paris. Das war eine ehrenvolle Berufung. Nur zwei Deutsche hatten sie vor Eckhart erreicht: Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg. Eckhart lebte 1311 im Dominikanerkloster Saint Jacques. In diesem Hause, in dem auch Thomas von Aquino und Albert gewohnt hatten, gab es 1311 ein kontroverses Thema: Eine Frau namens Marguerite Porete hatte ein Buch geschrieben. Dass eine Frau über Gott schrieb, noch dazu in der französischen Volkssprache, das war schon verdächtig. Dann handelte dieses Buch auch noch von radikaler geistiger Armut. Es hieß „Le miroir des simples ames“. Marguerite wurde gefangen genommen, es kam zu einem mehrjährigen Inquisitionsprozess. Margerite verweigerte den Widerruf. Der maßgebende Inquisitor war der Dominikaner Wilhelm von Paris; er wohnte wie Eckhart in S. Jacques. Er verurteilte Marguerite; sie wurde am 1. Juni 1310 auf der Place de Grève bei lebendigem Leibe verbrannt; ihr Buch mit ihr.

Dessen Text ist glücklicherweise erhalten. Es spricht von selbstvergessener Liebe der Seele zu Gott. Die Seele wird in reiner Liebe zu Nichts. Nichts hat sie mehr, nichts weiß sie mehr, nichts will sie mehr. Marguerite schreibt: Fragen wir eine solche Seele, ob sie ins Paradies wolle, so sagt sie: nein. Sie begehrt nichts. Weil sie „vernichtet” ist, kennt sie keine Zwecke mehr; ihr Leben bleibt frei von Zielen, von Tugenden und Geboten. Sie braucht keine Außenregulierung. Dies hielten Kirchendenker – und Kirchenbehörden für gefährlich, mit Grund. Sie beantworteten die Bedrohung ihres Systems, indem sie die junge Frau verbrannten. Der Zusammenhang mit Eckharts Armutspredigt ist unübersehbar. Kurt Ruh zufolge hat Eckhart, der angesehene Magister, den Gedanken der verurteilten Frau aufgenommen und ihn korrigiert, damit er orthodox akzeptabel würde. Aber wo in unserem Text erfolgt diese Korrektur? Jedenfalls akzeptierten die Kirchenbehörden auch nicht das „korrigierte” Armutskonzept.

Unsere Predigt gilt dem Vers Beati pauperes spiritu, Matthäus 5. Der Ausdruck „arm am Geiste” ist auffällig. Bibelgelehrte erklären ihn dahin: Jesus habe ursprünglich gesagt: „Selig sind die Armen, denn sie bekommen Land”. So steht der Satz bei Lukas; er hätte dann die ältere Fassung bewahrt. Dann hätte der historische Jesus Bodenreform versprochen, Landverteilung an die kleinen Leute. Die Umwälzung blieb aus, die machtvolle Wiederkehr Jesu verzögerte sich. Die Gemeinde musste den Ausspruch Jesu umdeuten; sie hat ihn spiritualisiert. Die armen Teufel von Palästinensern, mit denen der historische Jesus sprach, hätten mit „Armut im Geiste” nichts anfangen können. Aber diese sekundäre und kompliziertere Fassung steht bei Mathäus; Eckhart erklärt sie aus seiner Theorie der Armut, unbekümmert um philologisch-historische Fragen. Aber schauen wir sie uns näher an:

Ihr Hauptmotiv ist einfach. Augustin – De Trinitate VIII 3 und Confessiones IX, die sog. Vision von Ostia, – Augustin also hatte gesagt: Sieh die Körperwelt an und negiere sie. Komme zur Geistseele und negiere sie, dann siehst du Gott. Sieh das gute Brot und den guten Freund. Nimm die Einzelbestimmungen „Brot“ und „Freund“ weg, halte nur das Gutsein fest, und du begreifst Gott.

Augustins Gedanke war: Negiere die Einschränkungen und du erfasst das Unbeschränkte. In allem Eingeschänkten ist ein Nichts: Der Körper ist nicht Geist; der Freund ist nicht Brot. Lasse dieses Nicht hinter dir, und du steigst auf in die Region des Überflusses. Eckhart geht in Augustins Richtung weiter: Bist du aufgestiegen und hast oben Gott und unten die Welt, dann ist dein Gott nicht die Welt; dann bewegst du dich noch im Nichtigen, im Gegensätzlichen. Negiere auch diese Entgegensetzungen. Du bist nie völlig herausgetreten aus dem ersten Grund. Der wahre Gott, das ist die Einheit, der nichts entgegengesetzt ist. Auch du bist ihr nicht entgegengesetzt. Negiere auch den Gegensatz zwischen Gott und dir. Das kannst du, denn du stehst immer in deinem ersten Grund. Dieser ist unendlich einfach; alles, was in ihm ist, ist er selbst. Also bist du, sofern du dort bist, selbst dieser erste Grund, aus dem Gott und Welt und du, als Einzelwesen, hervorgehen. In diesem ersten Grund bist du du, dort brauchst du nichts, begehrst folglich nichts. Begehren, Verlangen, Anstreben, dies alles setzt voraus, dass das Gute außer dir ist. Du bist aber im Guten. Du bist das Gute. Normalerweise stellst du dir Gott, die Welt und dich als als verschieden vor. Aber im ersten Grund bist du Gott, Welt und Mensch.

Lebendig ist, was seinen Zweck in sich hat, nicht in einem anderen. Das ist klar und aristotelisch: Das Lebendige hält sein Telos in sich; es ist Entelechie. Eckhart radikalisiert das: Der Mensch soll weder sich selbst leben noch der Wahrheit noch für Gott. In der Einheit ist er diese selbst; er hat kein Außen mehr; er kennt keinen Zweck und benutzt nichts als Mittel. Er gibt jede Zweckorientierung auf. Er lebt, um zu leben, oder beser: Er lebt ohne Wozu.

Dies ist klar, aber es gibt doch dunkle Punkte:

  1. Eckhart radikalisiert die geistige Armut. Sein armer Mensch stellt das Wollen ein. Er weiß nicht nur, dass er nichts weiß; er löst sich auch noch von diesem Wissen ab. Er läßt alles fallen. Mit nichts identifiziert er sich. Er hat keine Welt mehr. Das ist der Weg radikaler Negation, den Augustin erfaßt hatte, aber nicht zu Ende gegangen war. Eckhart zeigt: Vollziehst du Augustins Gedankenaufschwung zu Gott mit der Begründung, das Reich des Gegensätzlichen zu verlassen, dann muss dir auch Gott verloren gehen, sofern er im Gegensatz steht zu Welt und Ich. Daher predigt Eckhart, dass er keinen Gott mehr hat. Er fordert uns auf, Gott los zu werden. Was heißt das genau?
  2. Wirklich arm wirst du, wenn du jeden Unterschied, auch den zwischen dir und Gott, aufgibst. Der radikal Arme kann sagen: Ich bin Gottes Ursache. Ohne mich ist Gott nicht Gott. Ich, in meinem wahren Selbst, bin der Ursprung Gottes. Ich habe die Welt geschaffen; ich habe mich selbst hervorgebracht? Nach dem kundigen Urteil Ockhams sind das Verrücktheiten; nach dem kompetenten Spruch von Papst Johannes XXII. ist das Teufelsaat im Acker des Herrn. Auch moderne Eckhart-Philologen hielten Eckharts Lehre für verrückt. Sie griffen in den Text ein, weil sie eine solche Verrücktheit Eckhart nicht zumuten wollen. Sie schwächten schonend ab, auf möglich unauffällige Weise. Wenn Eckhart sagte, Gott werde durch mich erst Gott, dann setzte Quint diskret das Wort „Gott” in Anführungszeichen. Diesen Eingriff gestattete Quint sich an dem von ihm konstituierten mittelhochdeutschen Text; aber natürlich kennen die Handschriften keine Anführungszeichen. Eckhart sagte nicht, wir sollen das Wort „Gott” fallen lassen; er verlangte, dass wir Gott verlassen, genau so wie die Welt. Eckhart sagte nicht: Ich bin der Grund dafür, dass es das Wort „Gott“ gibt. Er sagte: Ohne mich ist kein Gott. Kurioserweise hat jemand eingewendet, Eckhart habe keinen Begriff von Ich. Aber wenn Eckhart sagt, ich bin der Ursprung Gottes – nicht nur dieser Vokabel –, dann hatte er wohl auch einen Begriff von Ich.
  3. Eckhart preist die Armut, nicht um Leiden und Entbehrung zu preisen; seine Armut ist Seligkeit. Um zu wissen, was Glückseligkeit ist, müssen wir Einsicht gewinnen in das Etwas in der Seele, das jenseits von Wissen und Wollen steht. Eckhart sagt nicht: Ihr müßt Gott erkennen, um zu erfassen, was Glückseligkeit ist. Er sagt, befremdlicher: Nur wenn ihr das Etwas in der Seele wißt, wißt ihr auch, was Glück ist. Was ist dieses Etwas?
  4. Gegen Ende der Predigt fügt Eckhart eine knappe Selbstverteidigung ein. Er will den Vorwurf widerlegen, seine Lehre vom Etwas in der Seele widerspreche dem Satz des Apostels, was er sei, sei er nur durch die Gnade Gottes. Eckhart verteidigt sich mit einer Deutung der Paulus-Stelle und skizziert eine Theorie der Gnade. Was sagt sie genau?
Über Eckhart nachdenken, heißt diese Punkte aufklären. Dies will ich anfangsweise versuchen. Dass die Dinge komplizierter sind, als ich sie hier darstelle, versteht sich von selbst.

Das Etwas in der Seele

Nach einer knappen Unterscheidung von äußerer und innerer Armut setzt Eckharts Predigt mit dem Albert-Zitat ein. Danach ist geistige Armut das Abtun des Wahns, irgendein Geschaffenes könne uns ausfüllen. Diese Auffassung von Armut war kein spezifisch albertistisches Motiv; sie gibt die neoplatonisierende und augustinische Tradition wieder. Eckhart anerkennt den Gedanken Alberts, er will aber auf anderes hinaus – Armut als Nichts-Wollen, Nichts-Wissen, Nichts- Haben – und trägt seine These vor: Willst du wissen, was Seligkeit ist, musst du zuvor begreifen, was das Etwas in der Seele ist, aus dem Erkennen und Wollen hervorgehen. (Steer 174, 3)

Was erfahren wir von diesem Etwas, das wir kennen müssen, um die Identität von Seligkeit und wahrer Armut zu wissen? Das Etwas ist in der Seele, und von ihm kommen Wissen und Wollen her. Es ist in jeder menschlichen Seele, in der es Erkennen und Wollen gibt. Heiden haben es ebenso wie Christen. Nicht von besonderer Gnadenausstattung ist die Rede, nicht von mystischer Begabung, sondern von der Natur der Seele, die mehr ist als Wissen und Wollen. Eckhart spricht von deren tätigem Grund, vom Innersten der Seele.

Eckhart behauptet von ihm nicht, es erkenne nicht, schon gar nicht denkt er dabei an Gefühl – etwa an sehnsüchtiges „Harren“ auf Künftiges – oder Intuition, sondern er sagt, es erkenne und liebe nicht wie die Kräfte der Seele. Es ist also durchaus geistig aktiv. Es denkt und es bejaht sich willentlich selbst. Dafür sagt Eckhart: „Es gebrûchet seiner selbst in der Weise Gottes. Es ist tätige Rückwendung auf sich selbst; es genießt sich, wie Gott sich genießt. Es erkennt also und es genießt, aber nicht wie die Seelenkräfte. Es ist das Licht, in dem wir alles sehen; es ist kein einzelnes Beleuchtetes. Es ist Intellekt, aber verborgen, innen, abditum mentis sagte Augustinus. Es bringt alles zutage, kommt aber nicht selbst zutage.“

Es ist zeitlos, kennt kein Zuvor und kein Danach; es erwartet keine eigenschaftlichen (akzidentellen) Vervollkommnungen; es ist immer schon fertig; seine Tätigkeiten haben nicht den Sinn, weitere Vollkommenheit zu erwerben oder deren Verlust fernzuhalten; es weist keine Bestimmungen auf; es ist nicht ausgegliedert ins Dies und Das. Es ist abgesetzt, getrennt, bestimmungslos, beroubet, privatum est. Es weiß deswegen nicht, dass Gott in ihm wirkt, in der Weise, dass es ihn als einen anderen wüßte, in der Weise, wie die Seelenkraft „Intellekt” Gott bestimmt. Armut an Geist – das meint nicht den Verzicht auf den Intellekt zugunsten von Glauben oder mystischem Erleben, sondern es ist Wissen und Seligkeit in diesem präzis analysierten beroubet-Sein, also in der tätigen Verneinung, privatio, die der Intellekt ist.

Das Etwas ist identisch mit sich; „ez ist selbe daz selbe“. Die mittelalterliche lateinische Übersetzung sagt, es sei ipsum per se. Das heißt: Es ist selbig, identisch mit sich und ist durch sich selbst selig; es ist ein Selbst, das durch sich selbst, nicht sekundär, nicht durch anderes mit sich identisch ist.

Mit anderen Worten: Als Denkende sind wir immer tätig, unbedürftig, immer schon bei uns. Wir sind wesenhafte Tätigkeit, ein Ich. Ein solches nicht-dinghaftes Ich sind wir alle, Männer wie Frauen, Christen wie Nicht-Christen. Dieses Ich dürfen wir nicht verwechseln mit dem „Intellekt”, sofern wir dabei an den Intellekt im Unterschied zum Lieben denken und sofern wir beides, einer verdinglichenden Ontologie folgend, als „Seelenkräfte” deuten. Wir müssen es aber „Intellekt” nennen, sofern wir an dessen immerwährendes Ablösen denken, an die intellektuelle Tätigkeit, die beim Aufstieg „Brot” und „Freund” „wegnimmt” und zuletzt den Unterschied von Gott und Welt negiert.

Die aristotelische wie die neuplatonische Tradition sprachen vom göttlichmenschlichen Intellekt. Danach ist unser Nus in sich, nicht erst durch anderes Hinzukommendes, Leben und Seligkeit. Von diesem Nus hatte Plotin gesprochen, und Augustin hatte davon gezehrt. Aber Eckhart verstärkte dieses Motiv, gestützt auf Aristoteles, die Aristoteleserklärer Averroes, Albert und Dietrich von Freiberg. Seine Armutspredigt enthält eine Philosophie des Christentums, der Beseligung und des Intellekts auf aristotelisch-averroistischer, durch Albert und inbesondere durch Dietrich vorbereiteter Basis.

Intellekt und göttliche Einheit

Die schwierigen Stellen der Predigt erklären sich nun vergleichsweise einfach: Als ursprünglich denkend bin ich in der unendlichen Einheit diese selbst. Ich bin Ursache meiner selbst, ich bin Ursache Gottes, Gott, als Unterschiedner, befriedigt mich nicht; er wäre „oben“ und außen; ich, in der unendlichen Einheit, lebe ziellos, habe kein Außen. Zwar bin ich auch ein zeitliches Wesen, sterblich, Zufällen ausgesetzt. Daher muss mein Handeln darauf ausgehen, Bedürfnisse zu befriedigen; ich muss Zwecke haben und Ziele anstreben.

Aber als Intellekt (im qualifizierten Sinne), bin ich in der göttlichen Einheit. Sie hat keine Unterschiede; was sie tut, tue ich; wie sie, beziehe ich mich nicht erst auf anderes, um zu meinem Ziel zu kommen. Ich bin Ziel in mir selbst. Nicht, sofern ich dieser einzelne Mensch bin, sondern sofern ich Intellekt bin und in ihm lebe. Ich lebe in ihm durch Ablösung von allem, von der Welt und von Gott. Der wahre Gott, das wahre Selbst, sie sind nie herausgetreten; sie sind immer in der Einheit. Sie sind die Einheit. Dies ist das selige Leben, das wir immer geführt haben und das wir immer führen. Wir müssen nur zuerst mit Augustin die Fixierung auf das Dies und Das fallen lassen und dann auch noch das Resultat dieses Aufstiegs übersteigen, sofern an ihm der Gegensatz haftet von Gott und Welt, von negierendem Ich und negiertem Inhalt.

Gott und ich sind dann eins. Da hat es keinen Sinn mehr, von Gnade zu sprechen. Dennoch kann ein Mensch mit Recht sagen: Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin. Denn als zeitliches, handelndes, zielorientiertes Wesen brauche ich Hilfe von außen. Mit dieser Unterscheidung folgt Eckhart der Theorie seines Lehrers Dietrich von Freiberg; er folgt dessen ausgearbeiteten Theorie des Intellekts, der Seligkeit und der Gnade.

Dietrich zufolge formt die Gnade unsere geistig-willentliche Außenbetätigung, alles was dem möglichen Intellekt, intellectus possibilis, untersteht, also Wollen und Handeln, alle dinghafte Weltbeziehung. Unser Umgang mit Dingen steht akzidenteller Vervollkommnung offen. Die Gnade hat ihr Feld. Aber sie ist eingeschränkt auf den „möglichen Intellekt“, auf den rezeptiven Geist, den intellectus possibilis. Der „tätige Intellekt“, intellectus agens, braucht sie nicht. Er ist das, was wir immer schon waren. Er ist keiner weiteren Vervollkommnung fähig. Es hat keine Eigenschaften. Ihm ist das Haben das Sein. Er ist der Kern unseres Wesens, und da Gnade die Natur nicht zerstört, sondern voraussetzt, kann Gnade sich nur auf die intellektuelle und willentliche Außenbeziehung des Menschen richten. Dafür ist sie unentbehrlich, aber sie dringt nicht vor in die intellektuelle Wesenheit. Wer für dieses tätige Innensein ein Bild braucht, mag sie ruhig „Seelenburg“ nennen. Entscheidend ist, dass der Gedanke klar wird. Die Gnade hilft uns zufallausgesetzten Menschen zu dem, was wir als wesenhaft tätiger Intellekt zufallsüberlegen von Ewigkeit sind. Der „tätige Intellekt“, intellectus agens, setzt das Wesen der Seele in die Ewigkeit. Hat die Gnade ihr Werk getan, dann überformt der tätige Intellekt, der oberhalb der einzelnen Seelenkräfte steht, den ganzen Menschen. Dieser, ein bestimmtes Individuum, Paulus zum Beispiel, ist dann zu dem geworden, was er immer schon war. Er lebt in der unendlichen Einheit.
Dort hat Gnade keinen Platz.

Eckharts Denkweg

Blicken wir noch einmal zurück – Eckhart zitiert am Anfang Albert für das neuplatonisch- augustinische Muster der Argumentation: Kein Äußeres, kein Inneres kann uns genügen. Eckhart vollzieht diesen alten Philosophen-Aufstieg neu und versteht Armut an Geist als das Negieren unseres Wissens, unseres Wollen, unseres Gott- Habens. Er radikalisiert den Gedankengang und schließt: Wenn wir oben sind, haben wir kein Wissen, kein Wollen, kein Gott-Verhältnis mehr. Denn dies alles schließt noch Gegensätze ein. Oben sehen wir, dass oben unten ist. Denkendes Hinaufgehen ist Hinabgehen.

Neu ist bei Eckhart das Motiv der Armut, also die Radikalisierung des Verzichtes auf alles, was sich noch unterscheidet und insofern einen Ausschluss, ein Nichtsein enthält. Daher Eckharts Verzicht auf ein Gott-Verhältnis und auf Ziele. Neu bei Eckhart ist die weitergehende Ausarbeitung der Theorie des Geistes, des Etwas in der Seele und die daraus folgende Einschränkung des Wirkbereichs der Gnade.

Wir sollen arm sein an Geist, sofern unser Geist – was er immer auch muss – nach anderem schaut und draußen sucht; wir können arm sein an Geist, denn wir sind immer schon der Intellekt, der eins ist mit der Einheit.

Eckharts Predigt redet nicht von Visionen; sie ist kein Bericht; sie sagt nicht, es gehe hier um „mystische Theologie“. Sie folgt schlicht einem einfachen Gedanken: Der Intellekt ist Negationskraft, ist wesenhaft tätiges Sichheraushalten; er ist radikale Ablösung, und nur als absoluter, d.h. als sich ablösender, ist er die Brunnenstube des Weltsystems, Gottes und der Welt als entgegengesetzter. Er löst sich von diesem Gegensatz und ist selig. Der Gottesbegriff erweist sich als doppeldeutig: Einmal meint er Gott als entgegengesetzten, als verschiedenen, also den Gott des gewöhnlichen Theismus, zweitens meint er die umfassende Einheit, in der der Intellekt immer schon ist.

Eckhart ging es – wie der antiken Philosophie überhaupt und wie Augustin – um Glück oder Seligkeit, um argumentativ vermittelte unmittelbare Verbindung mit dem Ursprung. Er lehrt zurückzutreten in diesen uns immanenten Ursprung, damit wir sehen: Wir erhalten durch intellektuelles Erfassen unseres göttlichen Ursprungs allererst unsere Existenz, und danach erst treten Gott und Welt und Ich auseinander. Im tätigen Intellekt, sind wir wir selbst, verborgen als abditum mentis. Arm ist, wer radikal dieses Leben lebt, als Intellekt vor dem Auseinandertreten von Wissen und Wollen. Er lebt ein zielfreies Leben in der absoluten Einheit. Sie heißt „absolut”, weil sie abgelöst ist von der Unterscheidung von Gott und Ich und Welt.

Der „Geist“, Nus, sagte Aristoteles, ist „abgetrennt“, choristós; er ist seinem Wesen, seiner usia nach Tätigkeit, nicht akzidentell, nicht außenvermittelt. Die lateinischen Aristoteleserklärer, Albert voran, fassten das Getrenntsein des Geistes als „abgelöst“,abstractus, absolutus, auch als „frei“, liber. Eckhart entfaltete die Energie, die in diesen Prädikaten steckt; er macht aus ihnen den deutschen Satz, der Intellekt stehe ledic und entwickelte daraus seine Theorie der Armut.

Unser selbiges Selbst ist „Intellekt”, aber was hier „Intellekt“ heißt, ist nicht der heutigen Umgangssprache zu entnehmen, sondern mit Dietrich aus Aristoteles, Averroes und Albert zu rekonstruieren. Das wird in Zukunft der Weg sein, wissenschaftlich über Eckhart zu sprechen. Dieser Intellekt Dietrichs und Eckharts ist weder eine Seelenkraft noch ein abgetrennter, halb-göttlicher Zwischenwesen- Intellekt; er ist unser menschliches Denken, aber als immer-tätiger Seelengrund, nicht als bloßes Denkvermögen, nicht als bloß theoretisches Verhalten. In Eckharts Theorie begreift der menschliche Intellekt sich selbst als tätige Einheit von Selbst-Durchsichtigkeit und Selbstgenuss, die sich als zeitgebunden und vergänglich nur wissen kann, weil sie zeitüberlegen, immer schon bei sich ist.

Wir im 20. Jahrhundert müssen den Menschen als bedürftig und historisch kontingent denken. Die Unterscheidung zwischen Einzelmensch und zeitüberlegenem Intellekt klingt uns mythologisch. Aber Eckhart zieht nur schroff Konsequenzen aus dem fast überirdischen alteuropäischen Vernunftkonzept.

Ich habe nur bis an dessen Schwelle geführt. Ich überlasse jedem Leser Eckharts Theorie der Armut als Seligkeit zu freiem Nachdenken. Ich weiß nicht, ob wir etwas so Transzendentes sind, wie Dietrich und Eckhart behaupten. Ich weiß nicht, ob ich ein so identisches Selbst bin. Aber immerhin kann man ja auch fragen: Wie sollten wir ohne ein solches selbiges Selbst, wenn wir schon in der Fremde herumirren, woher sonst sollten wir wissen, dass wir es sind, die nicht daheim sind?

Meister Eckhart - in seiner Zeit. Die Auslegung ist Teil einer PDF der Identity Foundation (S. 36-46), der auch andere Texte dieser Seite entnommen sind. Eckhart – ein Wirrkopf?

Der bedeutendste Eckhartforscher des 19. Jahrhunderts, der Dominikanerpater Heinrich Denifle, hielt Meister Eckhart für einen Wirrkopf. Ein bedeutender Eckhartforscher des 20. Jahrhunderts, Josef Koch, drückte sich zwar zurückhaltender aus, meinte aber gelegentlich, Eckhart sei vielleicht tiefsinnig, aber keineswegs klar.

Ich halte beide Urteile für falsch. Das Denken Meister Eckharts war von seltener Kohärenz. Dennoch verstehe ich die abschätzigen Urteile der beiden Eckhartforscher recht gut. Sie hielten Thomas von Aquino für den maßgebenden Denker; sie sahen in ihm die Norm für Mittelalter und Gegenwart. Daher suchten sie in Eckhart ihren Thomas von Aquino. Sie fanden Anklänge, denn Eckhart, der Dominikaner, war am Ordenslehrer Thomas nicht einfach vorbeigegangen, aber sie fanden nicht die gesuchte thomistische Systematik.

Außerdem hatten diese Entdecker mit dem unqualifizierten Eckhart-Jubel zu kämpfen, der zu Denifles Zeiten anschwoll, nachdem Franz Pfeiffer schon 1857 die deutschen Predigten ediert hatte; die lateinischen Werke waren unbekannt; erst Denifle hat sie entdeckt. Liberale Theologen und neoromantische Theosophen verehrten im deutschen Eckhart den „Vater der deutschen Spekulation“. Josef Koch sah sich einer gröberen Eckhartaneignung gegenüber: Alfred Rosenberg hatte in Eckhart den Vorkämpfer einer germanischen Frömmigkeit entdeckt; sein Mythos des 2o. Jahrhunderts besteht zu einem Drittel aus einer deutschtümelnd-rassistischen Eckhartdeutung.

Dies alles liegt weit zurück. Selbst die Polemik gegen die dreistesten Zugriffe, die noch in den fünfziger und sechziger Jahren anhielt, ist heute überflüssig. Die Eckhartstudien sind nüchterner und genauer geworden. Das Arbeitsfeld war aufgewühlt. Wie war in dieser Situation weiterzukommen? Es standen zwei – und ich meine: nur zwei – Wege offen. Erstens war die intellektuelle Umgebung Eckharts genauer in den Blick zu nehmen. Der theoretische Spielraum war abzuschreiten, den Albert in Paris und Köln geschaffen hatte. Die Spannungen im Denken Alberts waren zu untersuchen. Albert war nicht nur der Lehrer des Thomas von Aquino; auf Albert konnten sich auch radikale Aristoteliker berufen.

Der Bischof von Paris hatte 1277 diese Strömung verurteilt: Wie war die intellektuelle Situation, in die der junge Eckhart eintrat? An welche Seite in Albert knüpfte er an? Was übernahm er von Thomas, und worin wich er von ihm ab? Im Zug solcher Untersuchungen wurde Dietrich von Freiberg als der entscheidende Anreger Eckharts neu entdeckt; dessen Texte wurden herausgegeben und zum Teil ins Deutsche übersetzt. Das war der eine Weg. Er hat eine Menge neuer Fakten, neuer Texte und neuer Gesichtspunkte auf den Tisch der Forscher gelegt. Er ist noch keineswegs erschöpft.

Aber er hätte nur zu einem verschwommenen Bild geführt, hätte es nicht, selbstständig daneben, eine neue Befassung mit Eckharts sämtlichen Texten gegeben, mit den lateinischen ebenso wie mit den deutschen Werken. Bei der Uneinheitlichkeit der Eckhartdeutungen lag es nahe, nach Eckharts intellektueller Herkunft zu fragen und in seinem Werk nach Erklärungen zu suchen, wie er seine Arbeit verstanden hat.

Die Suche versprach nicht von vornherein Erfolg. Denn es war im 13. und 14. Jahrhundert nicht durchgängig üblich, dass ein Autor erklärte, worin das einheitliche Ziel seiner verschiedenen Bemühungen bestanden habe. Aber bei Eckhart finden sich solche Selbstauslegungen. Damit war er eher die Ausnahme. Er war um die Auslegung seiner Schriften und Predigten besorgt; er hat mehrere derartige Erklärungen hinterlassen. Es versteht sich, dass keine Beschäftigung mit Eckhart an ihnen achtlos vorbeigehen darf, wenn es um den geschichtlichen Meister Eckhart geht. Ich möchte zwei von diesen Selbstdarstellungen Eckharts zugrunde legen, um seinen denkerischen Ansatz zu ermitteln.

Die ausdrücklichste Absichtserklärung Eckharts steht an unübersehbarer Stelle, gleich zu Beginn seines Kommentars zum Johannesevangelium (Lateinische Werke, Band 3, Stuttgart–Berlin 1936. hg. von Karl Christ und Joseph Koch, S. 4 nn. 2–3). Eckhart stellt hier klar, was bei diesem Kommentar und in allen seinen Veröffentlichungen (in omnibus meis editionibus) seine Intention gewesen sei. Er wolle, schreibt er, die Wahrheit des christlichen Glaubens mit philosophischen Argumenten auslegen (ea quae sacra asserit fides christiana … exponere per rationes naturales philosophorum).

Eckhart kündigt einen zweifachen Weg an: Zuerst will er mit philosophischen Vernunftargumenten zu dem hinführen, was die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments enthalte. Sodann wolle er zeigen, dass die heiligen Schriften andeutungsweise das enthalten, was die Philosophen als Grundsätze, als Folgerungen und Eigentümlichkeit der Natur darlegen.

Eckhart wußte, dass nicht jeder seiner Kollegen bereit war, der Vernunft soviel Anrecht auf dem Gebiet der Glaubenswahrheiten zuzugestehen. Deswegen beruft er sich, wie es üblich war, auf Autoritäten. Zunächst zitiert er den Apostel Paulus; der Römerbrief 1, 20 erkläre, was an Gott unsichtbar ist, lasse sich aus den sichtbaren Dingen erkennen. Also auch Nicht-Christen könnten Gott aus der Natur erkennen, ihn selbst, seine ewige Kraft und sein Gottsein. Ferner beruft Eckhart sich auf das siebte Buch der Bekenntnisse Augustins, der erzählt, er habe in den Büchern Platons gefunden, dass am Anfang der Logos war. Die Platoniker hätten einen großen Teil des ersten Kapitels des Johannesevangeliums mit der Vernunft erkannt.

In der Tat hatte Augustin betont, die platonischen Philosophen hätten zentrale Inhalte des christlichen Glaubens bewiesen, nämlich:

  • die Existenz eines einzigen Gottes,
  • den göttlichen Ursprung der Welt, also ihre Erschaffung,
  • das Hervorgehen aller Dinge aus dem göttlichen Idealgrund, dem Logos,
  • dem ewigen Wort, das am Anfang war und das Gott ist,
  • die Erleuchtung aller Menschen durch diesen Logos,
  • die Beseligung des Menschen durch die Rückkehr zu ihrem idealen göttlichen Grund.
Demnach haben die antiken Philosophen ohne den christlichen Glauben entdeckt: Die Welt stammt aus dem göttlichen Logos, ebenso alle wahre Erkenntnis und das wirkliche Glück der Menschen. Eckhart beruft sich auf das siebte Buch der Bekenntnisse, das erzählt, wie Augustin diese fundamentalen Übereinstimmungen zwischen Platonikern und dem Johannesevangelium entdeckt hat. Mit diesem Bericht hat Augustin der Philosophie im Christentum Heimatrecht gesichert. Eckhart zitiert das, drängt aber weiter. Er will nicht nur den philosophischen Monotheismus und die Logoslehre mit philosophischen Argumenten darlegen, sondern, wie er sagt, sowohl die Wahrheit des Alten wie des Neuen Testaments, also nicht nur die Erschaffung, das heißt den Ursprung der Welt aus dem Logos, sondern auch die Menschwerdung und Erlösung. Von diesen letzten Inhalten hatte Augustin aber nun gerade behauptet, die Philosophen hätten sie nicht erreicht.

Die Menschwerdung Gottes und die Erlösung durch Jesus galten daher als positiv geoffenbarte Glaubenswahrheiten, die der philosophischen Vernunft unzugänglich bleiben und die im Glaubensgehorsam anzunehmen sind. Thomas von Aquino, der dominikanische Ordenslehrer, hatte nicht nur die Menschwerdung und die Erlösung, sondern auch die Dreieinheit Gottes, die Trinität, zum reinen Glaubensmysterium erklärt. Die philosophische Vernunft könne zwar die Einheit und Einzigkeit Gottes erkennen, sie könne auch den Logos als Weltursprung erfassen, aber nicht die Dreieinigkeit, schon gar nicht die Menschwerdung Gottes und die Erlösung. Eckhart hingegen kündigt an, er wolle im Johanneskommentar wie in allen seinen Werken argumentieren zugunsten:

  • der Einheit und Einzigkeit Gottes
  • des einheitlichen Ursprungs der Welt aus dem Logos
  • der Menschwerdung des Logos
  • der Erlösung der Menschheit.
Was war das für ein Programm? Wie hat Eckhart sich die philosophische Begründung der Wahrheit der christlichen Lehre gedacht? Ich bin bisher dem Wortlaut Eckharts gefolgt. Aber sein Ansatz ist befremdlich genug.

Sein Konzept bedarf einiger Erläuterungen. Bevor ich sie erneut aus den Werken Eckharts suche, vier erste Klarstellungen:

  • Es geht um die Wahrheit der christlichen Lehre. Heißt es, Eckhart trieb Theologie? Im gewissen Sinne: Ja, denn es geht um die Wahrheit des Christentums. Aber das Wort „Theologie“, das eine Erfindung Platons war, hat viele Bedeutungen. Und in dem Sinne, in dem Eckhart von der christlichen Lehre gehandelt hat, gibt es heute keine „Theologie“. Denn Eckhart will beweisen, er will mit naturorientierten Philosophenargumenten beweisen. Bei der Einteilung von Wissenschaften kommt es auf ihr Verfahren an, nicht auf den materiellen Inhalt. Eckhart hat sein Verfahren als philosophisch (per rationes naturales philosophorum) angekündigt. Deswegen ist sein Denken ein Philosophieren über die Wahrheit des Christentums. Man könnte sagen: Eckhart hatte vor, Philosophie des Christentums zu treiben.
  • Eine solche philosophische Reflexion verändert den Inhalt dessen, worüber sie reflektiert, auch indem sie ihn festhält. Die Begriffe „Gott“, „Erschaffen“, „Erlösen“ bekommen einen vertieften, einen veränderten Sinn. Sie sind aus der Argumentation Eckharts neu zu entnehmen, nicht aus dem gewöhnlichen Katechismusunterricht irgendeiner Konfession kritiklos einzusetzen.
  • Eckhart spricht von den „natürlichen Gründen der Philosophen“. Es sollen Argumente sein, wie sie die natürliche Vernunft vor aller Offenbarung entwickeln kann und im Werk der europäischen Philosophen auch entwickelt hat. Sie heißen „natürlich“, im Unterschied zu „übernatürlichen“ Argumenten, die auf dem bloßen Glauben beruhen. Sie heißen aber noch in einem zweiten Sinn „natürliche Gründe“ (rationes naturales). Sie sind aus der Betrachtung der Natur der Dinge entnommen. Es sind „naturphilosophische „Argumente, nicht im Sinn einer modernen Naturwissenschaft oder Naturphilosophie, wohl aber einer Naturanalyse im Sinne der Physik des Aristoteles. Dies war eine Theorie der Gründe des Werdens und Vergehens von Naturdingen. Kein modernes Faktenwissen, aber doch eine Lehre von den Gründen von Naturvorgängen, vom Wachsen von Pflanzen, von der Umwandlung von Eis in Wasser, von der Wirkung von Feuer. Der moderne Leser ist oft überrascht, wie stark naturphilosophisch Eckhart argumentiert hat. Um so belehrender ist es, darauf auch bei seinen Predigttexten zu achten. Es ging auch um eine neue „Physik“.
  • Es kommt darauf an, wie man „Menschwerdung Gottes“ und „Erlösung“ denkt. Wenn sie faktische Ereignisse sind, die aus dem unerforschbaren Willen Gottes per Dekret hervorgehen, dann kann keine philosophische Vernunft sie aufweisen. Dann müssen sie faktisch, als gegebene Tatsache aus der Geschichte behauptet oder bestritten werden. Wenn die Vernunftgründe der Philosophen sie beweisen sollen, dann können sie nicht rein historische Daten sein. Eckhart hatte weder unseren modernen Begriff von Naturforschung, noch den des Historisch-Faktischen. Aber natürlich weiß er, dass sich die gewöhnliche Rede von der Menschwerdung Gottes auf einen Vorgang bezieht, der sich vor 1300 Jahren in Palästina abgespielt haben soll. Insofern hatte auch er einen Begriff vom Historischen. Nur interessiert ihn dies Historische nicht. Er fragt: Was nutzt es mir, wenn Gott früher einmal in Bethlehem Mensch geworden ist, wenn er nicht in mir geboren wird? Wird er in mir geboren, dann ist dies die wahre Erlösung. Die Gottesgeburt und die Erlösung, die Eckhart philosophisch beweisen will, fand nicht im Stall von Bethlehem oder am Kreuz am Stadtrand von Jerusalem statt, sondern in der Seele des jetzt lebenden Menschen.
Wie will Eckhart das philosophisch zeigen? Wie soll sich das ergeben gar aus einer an der Physik des Aristoteles orientierten Theorie der Gründe von Werden und Vergehen? Was heißt bei einem solchen Vorgehen „Gott“, was heißt „Seele“? Fragen wie diese verlangen geduldige, mehrstufige Antworten. Die einfachste Antwort auf sie hat Eckhart selbst gegeben, und zwar in einer zweiten Selbstauslegung, diesmal in einer deutschen Predigt.

Eckharts deutsche Predigt Nr. 6 handelt von dem Bibelwort: „Die Gerechten werden ewig leben“ (Iusti vivent in aeternum) und gibt Eckhart Gelegenheit zu einer weiteren Selbstdarstellung. Er schreibt:

„SWER UNDERSCHEIT VERSTAT VON GEREHTICHEIT UND VON GEREHTEM, DER VERSTAT ALLEZ, DAZ ICH SAGE.“

„WER DEN UNTERSCHIED BEGREIFT ZWISCHEN DER GERECHTIGKEIT UND DEM GERECHTEN, DER VERSTEHT ALLES, WAS ICH SAGE.

(Predigt 6, Deutsche Werke, Band 1, S. 105, Zeile 2–3). Das heißt: Der Schlüssel zu meinem Denken liegt darin, das Verhältnis des einzelnen gerechten Menschen zur Gerechtigkeit richtig zu denken. Wie sollen wir es denken?

Dazu gibt Eckhart eine Reihe von Hinweisen. Sie laufen darauf hinaus: Der Gerechte, sofern er gerecht ist, liebt die Gerechtigkeit. Sein ganzes Sein als ein Gerechter hängt an ihr. Sie lebt in ihm oder vielmehr er in ihr. Sie ist in ihm Mensch geworden. Aber nicht so, als sei sie jetzt eine Eigenschaft an einem eigenständigen Wesen, das sie trägt. Sie ist, fachlich gesprochen, kein Akzidens am Menschen als Substanz. Sie ist auch nicht bloß eine abstrakte Norm, ein bloßes Sollen oder ein „Wert“. Sie ist sein Leben; sie ist die Fülle seines Lebens. Wer sie scharf auffasst, nur als Gerechtigkeit, nur als Lebensfülle, die der Gerechte liebt, sofern er gerecht ist, kann sie nicht als Eigenschaft an einem Menschen denken. Wer sie denkt, vollzieht eine Umkehr des Blicks.

Er kann sie nicht als Eigenschaft und überhaupt nicht als etwas Geschaffenes denken. Sie ist Gott selbst, sofern Gott gerecht ist. Wäre Gott nicht gerecht, dann erklärt Eckhart schroff, dann würde er nicht die Bohne auf ihn geben. Nicht als abgetrennt gedachter Himmelskaiser, nicht als unerklärlicher höchster Wille, sondern als Gerechtigkeit ist Gott zu denken. Wir müssen Gerechtigkeit rein als solche denken lernen, dann erst wissen wir, was Gott ist.

Der Gerechte lebt in der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht in ihm, sondern er ist in ihr. Er trägt sie nicht als seine Eigenschaft; er schaut nicht zu ihr auf als zu einem obersten „Wert“. Alles kommt nach Eckhart darauf an, das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit nicht-dinghaft, nicht-abstrakt zu denken. Es ist ein Verhältnis lebendiger Identität.

Doch gilt die Identitätsaussage nur unter zwei Bedingungen: Sie ist wahr, sofern der Mensch in der Gerechtigkeit lebt. Sie gilt nicht bezüglich der tausend anderen Bestimmungen, die wir im Menschen sonst noch antreffen. Sie ist wahr, wenn wir dieses Sofern scharf mitdenken. Zweitens: Die Gerechtigkeit findet sich in uns nicht als ein fertiger Naturbestand. Sie muss in uns geboren werden. Wir müssen in sie hineingeboren werden. Auch hier ist ein Sofern zu beachten: Sofern wir noch dabei sind, in sie hineinzugehen, sind wir mit ihr nicht identisch.

Ist der Gerechte aber in sie hineingegangen, hat sie sein Leben erfasst, dann verschwindet alle Differenz. Dann ist die Gerechtigkeit in uns, nicht als ein Tugendding, das in uns hineingesetzt worden wäre, nicht als etwas, das überhaupt sinnvoll als erschaffbar gedacht werden kann, sondern als etwas, das in uns hingeboren worden ist. Sofern wir als Gerechte neugeboren leben, sind wir das göttliche Leben selbst. Wir sind es als Gezeugte, nichts als Geschaffene. Genitus, non factus, gezeugt, nicht geschaffen, nennt das kirchliche Glaubensbekenntnis den Sohn Gottes. Das Leben des Gerechten in der Gerechtigkeit, das ist die Wahrheit der Trinitätslehre, das ist die Sohnesgeburt, das ist die enthistorisierte Fassung der Menschwerdung Gottes.

Das Holz wird zu Feuer, nicht das Feuer zu Holz. So veranschaulicht Eckhart naturtheoretisch dies Verhältnis von Gerechtigkeit und Gerechtem. Im Johanneskommentar stellt er es ausführlich dar. In deutschen Predigten spielt er darauf an. Wir sehen Eckharts Intention realisiert. In allen seinen Werken, in omnibus editionibus meis. Wer das Verhältnis der Gerechtigkeit zum Gerechten so begriffen hat, der versteht alles, was er sagt.

Das Denkziel

„Gott und ich, wir sind eins.“ Das ist schroff und klar gesagt. Das ist das wesentliche Denkziel Meister Eckharts. Doch sind die Bedingungen klar zu halten, unter denen dies, Eckhart zufolge, allein wahr ist.

Erstens: Wir müssen uns das Sofern einschärfen. Es gilt, soweit wir gerecht sind. Den Begriff des Gerechten erfüllen wir nur aufgrund einer Umkehr des Denkens und Wollens. Was Eckhart erwartet, ist keine Kleinigkeit: Ich muss alles lassen, alles, was nicht die Gerechtigkeit ist. Indem ich alles fallen lasse, indem ich mich mit nichts identifiziere, bin ich mit dem identisch, der mit nichts identisch ist und deswegen die Lebensfülle ist.

Zweitens darf der Beweisanspruch Eckharts nicht verschleudert werden. Er lehrt, das Geborenwerden der Gerechtigkeit (auch der Wahrheit und der Gutheit) im Menschen, also das einzig wahre Gottverhältnis, sei mit der natürlichen Vernunft zu erkennen. Es bleibt nicht bloßer Glaubensinhalt; es ist kein Bericht über Erlebnisse ausgewählter Personen. Es ist das Leben aller Menschen. Es ist Philosophie der Identität, gewonnen auf dem harten Weg der Identifikation, die alles lassen lehrt, und der Argumentation, die sich an alle Menschen wendet, die in dieser Welt sind. Dieser allgemein-menschliche, dieser rational-philosophische Weg gehört wesentlich zum Ansatz Eckharts. Deswegen hat er ihn hervorgehoben, nicht nur in seinen lateinischen Kommentaren, sondern auch in deutschen Predigten und in seinem deutschsprachigen „Buch der göttlichen Tröstung“.

Meister Eckhart - in seiner Zeit. Der Artikel ist Teil einer PDF der Identity Foundation (S. 20-27), der auch andere Texte dieser Seite entnommen sind. Universität und Bettelorden bestimmen das intellektuelle Leben des 13. Jahrhunderts. Sie sind das Ergebnis einer grundlegenden Erneuerung der mittelalterlichen Christenheit. Die von Dominikus von Caleruega (1170–1221) gegründeten Dominikaner und die von Franz von Assisi (1182–1226) ins Leben gerufenen Minoriten wurden als Bettelorden bezeichnet, da sie in ihrer Lebensweise das Ideal der urchristlichen Armut zu verwirklichen versuchten und als völlig Besitzlose auf die Almosen anderer angewiesen waren. Im Gegensatz zu den klassischen Mönchsorden der Benediktiner oder der Zisterzienser gründeten sie ihre Klöster nicht in der einsamen Öde auf dem Lande, sondern ließen sich im Zentrum der Städte nieder.

Die Entstehung und der Erfolg dieser Orden stehen also ganz im Zeichen der im 12. Jahrhundert einsetzenden, wirtschaftlichen und kulturellen Blüte der Städte. Da die Dominikaner ursprünglich gegründet worden waren, um die Katharer zu bekehren – um mit ihnen zu diskutieren und Streitgespräche zu führen – und der junge Orden in den Kreisen der Universitäten von Bologna und Paris großen Erfolg erntete, spielte das Studium in diesem Orden von Anfang an eine erhebliche Rolle. Die Ordensleitung war nicht nur um eine vorzügliche Ausbildung der Brüder besorgt, namentlich durch die Gründung zahlreicher Studienhäuser (studia generalia), sondern bestimmte bereits in den frühesten Ordensregeln, dass in jedem Konvent ein Lector vorzusehen sei, der gleichsam für die theologische Weiterbildung seiner Mitbrüder zu sorgen hatte.

Die beiden Dominikaner Albert der Grosse († 1280) und Thomas von Aquino († 1274) verkörpern insofern in exemplarischer Weise das dominikanische Ordensideal, als sie die theologisch-philosophische Gelehrsamkeit mit der Verkündigung des Evangeliums, die dem Orden die Bezeichnung Predigerorden einbrachte, zu verbinden versuchten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass die ersten Zeugnisse zum Leben Meister Eckharts in das Pariser Universitätsmilieu führen. Es handelt sich nämlich zum einen um eine Predigt, die Eckhart am Osterfest des Jahres 1294 gehalten hat sowie zum anderen um eine am Anfang des akademischen Jahres 1293/1294 vorgetragene Einleitung zum Sentenzenkommentar.

Beide Dokumente sind für den damaligen Universitätsbetrieb kennzeichnend. Mit seinem Kommentar zu den sogenannten Sentenzen des Petrus Lombardus, einem theologischen Kompendium aus dem 12. Jahrhundert, das an den europäischen Universitäten bis zum 16. Jahrhundert als Grundlage der theologischen Ausbildung benutzt wurde, schloss ein zukünftiger Theologieprofessor seine erstaunlich langen Theologiestudien ab. Diese begannen im Orden mit einer philosophischen Grundausbildung von circa sechs Jahren. Im Normalfall dauerte das Curriculum bis zur Erlangung der Funktion eines Sentenziars, die Eckhart wie gesagt im Jahre 1293/94 ausübte, bereits neun Jahre. Nach Abschluss dieser Vorlesung wurde, in manchen Fällen erst nach einigen Jahren ordensinterner Tätigkeit, das Promotionsverfahren eingeleitet.

Meister Eckhart, der, als er nach Paris geschickt wurde, mindestens 33 Jahre alt war, wurde also um 1260 bei Hambach geboren und entstammte der Familie von Hochheim (bei Gotha). In den Dominikanerorden ist er wahrscheinlich sehr früh eingetreten und hat zweifellos einen gewichtigen Teil seiner Ausbildung am Kölner Ordensstudium verbracht, das Albert der Grosse 1248 gegründet hat. Jedenfalls hat Eckhart den bedeutenden Philosophen und Theologen noch persönlich gekannt.

Die Pariser Universität, deren erste Statuten aus dem Jahre 1215 stammen, bildete zusammen mit Oxford das Zentrum der gelehrten Welt des 13. und 14. Jahrhunderts. Als Körperschaft der Studenten und Professoren – der Ausdruck ‘universitas’ meint diesen Zusammenschluss – war die Pariser Hochschule eine von der kirchlichen und politischen Ortsbehörde unabhängige Gemeinschaft, die allerdings dem Papst unterstand und von den Päpsten auch erheblich gefördert worden ist.

Neben der Theologischen Fakultät existierten in Paris eine Medizinische sowie eine Juristische Fakultät. Da es seit 1219 in Paris verboten war, das Zivilrecht zu lehren, handelte es sich bei der letzteren indessen nur um eine Kanonische (kirchenrechtliche) Fakultät. An der „facultas artium“, der sog. Artistenfakultät, aus der dann später die Philosophische Fakultät hervorgegangen ist, wurden die Studenten durch eine umfassende Ausbildung in der Philosophie auf das Studium an den drei oberen Fakultäten vorbereitet. Während seiner Aufenthalte in Paris weilte Meister Eckhart im Kloster St. Jacques, eine sehr frühen Gründung des Ordens, die sich im Herzen des am linken Seineufers gelegenen Universitätsquartiers befand.

In diesem Umfeld hat Eckhart, der möglicherweise bereits ein erstes Mal um 1286 zu Studienzwecken in Paris weilte, die großen intellektuellen Debatten seiner Zeit kennen gelernt, nämlich den Streit um das Erbe des Thomas von Aquino und die Diskussionen um den Status der Philosophie, die durch einige Professoren der Artistenfakultät ausgelöst worden waren. Die Forderung dieser Magistri, zu denen Siger von Brabant und Boethius von Dacien gehörten, nach einer streng und exklusiv philosophischen Behandlung wichtiger Themen wie diejenigen der Ewigkeit der Welt oder der Natur des Intellekts, hat 1277 zu einer feierlichen Verurteilung von 219 Thesen durch den Pariser Bischof geführt, die vor allem eine Loslösung der Philosophie von der Theologie verhindern sollten.

Der Versuch des Thomas von Aquino, die neuen philosophischen Lehren griechischer, jüdischer und islamischer Herkunft mit den theologischen Anforderungen zu versöhnen, hat vor allem bei einigen Franziskanern zu einer vehementen Kritik geführt, mit der Eckhart während seiner Aufenthalte in Paris zweifelsohne ebenso konfrontiert wurde wie mit den Diskussionen zur Verurteilung der Philosophen.

Eckhart als Ordensmann

Einen gewichtigen Teil seines Lebens hat Eckhart der Ausübung von Führungspositionen in seinem Orden gewidmet. In keinem Abschnitt seines Lebens fristete er das Dasein eines von der Welt zurückgezogenen Eremiten. Nach seiner Rückkehr aus Paris wirkte er von 1294 bis 1298 als Prior des Konventes von Erfurt und gleichzeitig als Stellvertreter des Provinzials in Thüringen. Im September 1303 wurde er zum ersten Provinzial der neugegründeten Provinz Saxonia gewählt, ein Amt das er bis 1311 innehatte. In dieser wichtigen Aufgabe hat er nicht nur die vielseitigen Geschäfte der Provinz, zu der 50 Konvente gehörten, wahrgenommen, neue Klöster gegründet und mehrere Provinzialkapitel geleitet, sondern ebenfalls an Generalkapiteln seines Ordens teilgenommen (mit Sicherheit in Toulouse 1304, Strassburg 1307, Piacenza 1310).

Wiewohl die erhaltenen Dokumente aus dieser Zeit recht spärlich sind, zeugen sie von einer rastlosen Aktivität des Meisters, der zusätzlich seit dem Jahre 1307 als Generalvikar der böhmischen Provinz waltete. Als ihn schließlich 1310 die Ordensprovinz Teutonia zum Provinzial wählte, wurde diese Wahl vom Generalkapitel in Neapel (1311) allerdings nicht bestätigt, vielmehr wurde er als Professor nach Paris gesandt. Offensichtlich war Eckhart ein recht geschickter und erfolgreicher Administrator und Politiker, aber auch aus dieser Zeit intensiver Aktivität sind wichtige Werke überliefert. In seiner Aufgabe als Prior von Erfurt hat er „Die rede der unterscheidunge“ (Reden der Unterweisung) gehalten. Bereits die Überschrift dieses mittelhochdeutschen Traktates zeigt, worum es sich handelt: „Das sind die Reden, die der Vikar von Thüringen, der Prior von Erfurt, Bruder Eckharts Predigerorden, mit solchen Kindern geführt hat, die ihn zu diesem Reden nach vielen Dingen fragten, als sie zu Lehrgesprächen beieinander saßen.“ Die Adressaten dieser geistlichen Gespräche, die von Gehorsam und Gelassenheit, aber auch von Selbsterkenntnis und vom Sinn der äußeren Werke handeln, sind wohl jüngere Mitglieder des Konvents, vor allem Novizen gewesen. Das Werk berührt deshalb, vor allem im letzten Teil, zahlreiche Fragen der Lebensführung, aber von zentraler Bedeutung ist vornehmlich die Lehre der Selbstaufgabe (lâz dich) und der Selbsterkenntnis, die in den ersten Kapiteln entwickelt wird: „Erkenne dich selbst (nim dîn selbes war), und wo du dich findest, da lass von dir ab.“

Aus der Zeit als Provinzial der Saxonia dagegen stammen zwei Predigten und zwei Vorlesungen über das 24. Kapitel des Jesus Sirach, in denen Eckhart in erster Linie das Verhältnis von Gott und Geschöpf interpretiert. Er betont in diesen lateinischen Texten, die eindeutig an seine Mitbrüder gerichtet sind, mit großer Eindringlichkeit und im Kontext einer umfassenden metaphysischen Perspektive, dass das Geschaffene als solches kein Sein und keine andere der Vollkommenheiten (Einheit, Gutheit, Wahrheit, Weisheit) besitzt, sondern diese gänzlich von Gott empfängt: „Alles geschaffene Seiende hat Sein, Leben und Denken seinsmässig und wurzelhaft von Gott und in Gott, nicht in sich selbst als geschaffenem Seiendem“ (nach 33).

Eckhart als Universitätslehrer

Allzu oft wird übersehen, dass der Titel „Meister Eckhart“ die Verdeutschung des lateinischen Ausdrucks „Magister Echardus“ ist. Die Ordensdokumente bestätigen, dass der deutsche Dominikaner 1302 zum Magister, d.h. Doktor, der Theologie der Universität Paris promoviert wurde. In den Jahren 1302/03 sowie noch einmal 1311–1313 lehrte Eckhart als Professor der Theologie in Paris. Die theologische Fakultät umfasste zu dieser Zeit zwölf Lehrstühle, von denen zwei dem Predigerorden reserviert waren.

Nach den verbindlichen Texten sowie gemäss dem Selbstverständnis der Beteiligten hatte ein Theologieprofessor vornehmlich drei Aufgaben wahrzunehmen: kommentieren (legere), disputieren und predigen. Von der universitären Tätigkeit Eckharts sind uns Zeugnisse zu allen drei Pflichten erhalten, nämlich lateinische Predigten, Streitfragen und Bibelkommentare.

Im Laufe der Entwicklung der Universität hat sich allmählich die besondere Lehrform der quaestio disputata etabliert: Es handelte sich dabei um eine, nach genau festgelegten Spielregeln durchgeführte, regelmäßig stattfindende Diskussion, die von den Magistri zu den wichtigsten Problemen der Zeit durchgeführt wurde. Die nach genauen Regeln sich vollziehende Diskussion, zu der die ganze Fakultät geladen war, begann üblicherweise mit Erinnerung an kontroverse Quellentexte zum fraglichen Thema, die von den wissenschaftlichen Mitarbeitern (baccalaurei) vorgetragen wurden. Erst nach der ausgiebigen Erörterung aller nur denkbaren Einwände (Pro und Contra) bezog schließlich der Magister Position und schlug eine Antwort auf die gestellte Frage vor, bevor er die seiner Meinung entgegengesetzten Einwände widerlegte. Zwei der vier von Eckhart erhaltenen quaestiones lassen sich mit Eindeutigkeit dem Lehraufenthalt von 1302/1303 zuschreiben. „Ist in Gott Sein und Erkennen identisch?“ lautet die erste und wohl bedeutendere der beiden Fragen, zu deren Beantwortung Eckhart, wie es sich gehört, zuerst verschiedene Positionen der Tradition zu Wort kommen lässt.

Seine eigene Antwort ist ebenso überraschend wie originell, wenn er gegen Thomas von Aquino behauptet, Gott sei weder Sein noch Seiendes: Gott ist Intellekt und Erkennen und nicht seiend oder Sein. Diese erstaunliche These hängt damit zusammen, dass nach Eckharts Verständnis das Erkennen (intelligere) das Sein begründet: „Im Erkennen ist alles der Kraft nach enthalten als in der obersten Ursache.“ Eckharts Stellungnahme ist zwar gewiss in erster Linie für das Gottesverständnis von Bedeutung, da sie die herkömmliche Identität von Sein und Gott ins Wanken bringt, aber sie ist ebenso für die Interpretation des Verhältnisses von Erkennen und Sein von Belang, weil sie den traditionellen Primat des Seins vor dem Bewusstsein hinterfragt.

In der Kommentierung der Heiligen Schrift bestand die zweite Aufgabe des Magisters. Von Eckhart ist eine ganze Reihe von Bibelauslegungen erhalten, die zwar in der vorliegenden Form nicht mit Sicherheit als Frucht der Pariser Lehrtätigkeit bezeichnet werden können, von denen wir aber sagen können, dass sie im Zusammenhang mit der universitären Lehre zu sehen sind und dass sie für ein universitäres Publikum verfasst worden sind. Eckhart hat die Genesis (zweimal), das Buch Exodus, das Buch der Weisheit und das Johannesevangelium kommentiert. Diese zum Teil sehr ausführlichen Schriftauslegungen wollte Eckhart als dritten Teil des Dreiteiligen Werkes (Opus tripartitum) verstanden wissen.

Das leider fragmentarische gebliebene Hauptwerk des Thüringer Meisters sah einen ersten fundamentalen Teil mit „mehr als tausend“, in 14 Traktaten angeordneten Thesen vor, die das gesamte philosophische und theologische Wissen abdecken sollten. Ein zweiter Teil, nach dem Plan der Summa theologiae des Thomas von Aquino gegliedert, war für die Fragen (quaestiones) vorgesehen. Das dritte Werk schließlich hätte einen Kommentar zu allen Schriften der Heiligen Schriften sowie einen Predigtteil umfassen sollen. Leider sind nur die Vorrede zu diesem monumentalen Werk, die Erörterung der ersten These, der ersten Frage und der ersten Bibelautorität sowie die bereits erwähnten Bibelkommentare erhalten.

Das Überlieferte allerdings vermittelt in ausreichendem Maße Einblick in das spekulative Vorhaben Eckharts und offenbart den Universitätslehrer in all seinen Dimensionen. Eckhart selbst ist sich bewusst, dass das von ihm geplante Werk schier ein „Meer von Büchern“ zu erfordern scheint und er weiß auch, dass einiges „beim ersten Anblick ungeheuerlich, zweifelhaft oder falsch erscheinen“ wird. Das paradigmatisch vorgeführte Beispiel der Zuordnung von These, Frage und Auslegung verdeutlicht, wie sich nach Eckhart die Bereiche der Vernunft, der theologischen Tradition und der Bibel zueinander verhalten, denn er ist von der Übereinstimmung der drei Perspektiven überzeugt. Die mit strengen Vernunftargumenten beweisbare These (Das Sein ist Gott), die von der theologischen Tradition aufgeworfene Frage (Existiert Gott?) und der Anfang der Heiligen Schrift (Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde) besprechen und beinhalten auf verschiedene Weise dasselbe.

Aus diesem Grunde kann Eckhart in einer auf den ersten Blick irritierenden Formulierung behaupten: „Es ist also dasselbe, was Moses, Christus und der Philosoph (Aristoteles) lehren; es unterscheidet sich nur in der Art und Weise, nämlich wie das Glaubbare, das Annehmbare oder Wahrscheinliche und die Wahrheit“ (nach 185). Wie die in dieser Vernetzung implizierte Beziehung von Philosophie und Theologie als Bibelauslegung präzis zu deuten ist, hat Eckhart im Prolog zu seiner Johannesexegese festgehalten: Er intendiere in diesem Werk die Absicht, wie in allen seinen Werken, „das, was der heilige christliche Glaube behauptet, durch die Vernunftargumente der Philosophen auszulegen“ (nach 2).

Das in diesem Satz enthaltene Programm umfasst weit mehr als die der mittelalterlichen Theologie gemeinsame Forderung nach einer Einsicht in den Glauben (intellectus fidei). Eckhart ist vielmehr davon überzeugt, dass das Wesen des Christentums philosophisch, d.h. vernünftig erfasst werden kann: „Demgemäss wird also die Hl. Schrift sehr angemessen so erklärt, dass mit ihr übereinstimmt, was die Philosophen über die Natur der Dinge und ihre Eigenschaften geschrieben haben, zumal aus einer Quelle und einer Wurzel der Wahrheit alles hervorgeht, was wahr ist, sei es im Sein, sei es im Erkennen, in der Schrift und in der Natur“ (nach 185). Wenn diese Aussagen zutreffen, dann gilt auch, dass alle Menschen, sofern sie an der Vernunft teilhaben, die Lehre, um die es Eckhart geht, verstehen können.

Vor dem Horizont dieser Voraussetzungen wird der Unterschied zwischen gelehrtem Publikum, für das die universitären Schriften verfasst worden sind, und gewöhnlichem Christenvolk, das die Predigt hört, allerdings aufgehoben. Diese Aufhebung, die letztlich einer Gleichsetzung von Klerus und Laien gleichkommt, gehört zu den bedeutendsten Beiträgen Eckharts zur europäischen Geistesgeschichte: „Ich habe hiermit nicht von Dingen gesprochen, die man ausschließlich in der Schule vortragen soll, man kann sie vielmehr recht wohl auch auf dem Predigtstuhl zur Belehrung vortragen“ (Predigt 16B). So betrachtet bilden das deutsche und das lateinische Werk eine unzertrennliche Einheit, denn Eckhart lehrt hier und dort dasselbe.

Eckhart der Prediger

Zeit seines Lebens hat Eckhart gepredigt, nicht nur im Kontext der Universität und im Kreise seiner dominikanischen Mitbrüder, sondern ebenfalls vor dem einfachen Christenvolk und vor allem im Rahmen der Frauenseelsorge, mit der der Orden in besonderem Masse betraut worden war. Vom Meister sind sehr zahlreiche lateinische Predigten und Predigtentwürfe, vor allem aber rund hundert mittelhochdeutsche Predigten erhalten, von denen bislang 86 unzweifelhaft ihm zugeschrieben werden konnten; es ist damit zu rechnen, dass in nächster Zeit noch die Echtheit einer ganzen Reihe weiterer Predigten nachgewiesen werden kann. Für die Predigttätigkeit Eckharts waren die Jahre von 1314 bis ca. 1323 besonders fruchtbar. Er war in dieser Zeit im Straßburger Raum tätig, denn hier oblag dem Predigerbruder die Betreuung der dem Orden angeschlossenen Frauenklöster (cura monialium).

Im Rahmen dieser Aufgabe hat Eckhart sich gewiss auch mit der Frömmigkeit und Lebensweise der Beginen beschäftigt und auseinandergesetzt. Die Schwesterbücher von Diessenhofen und Ötenbach berichten von den Begegnungen des gelehrten Ordensmannes mit Nonnen in den Klöstern von Katharinental und Ötenbach, aber er hat mit Gewissheit alle Dominikaninnenkonvente des Oberrheins regelmäßig besucht.

In der Predigt 53 hat Eckhart ein Predigtprogramm formuliert, das in seine Verkündigungsintention Einblick vermittelt: „Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und dass der Mensch ledig werden soll seiner selbst und aller Dinge. Zum zweiten, dass man wieder eingebildet werden soll in das einfaltige Gut, das Gott ist. Zum dritten, dass man des großen Adels gedenken soll, den Gott in die Seele gelegt hat, auf dass der Mensch damit auf wunderbare Weise zu Gott komme. Zum vierten von der Lauterkeit göttlicher Natur.“

Diese Ausführungen, die deutlich machen, dass es Eckhart immer und stets um das Verhältnis des Menschen zu Gott geht, stehen nicht im Widerspruch zu einer anderen berühmten Predigtstelle (Predigt 6), wo er behauptet, wer den Unterschied zwischen Gerechtem und Gerechtigkeit begriffen habe, habe alles verstanden, was er sagen wolle: Eckhart will den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens, d.h. die Lehre von der Menschwerdung Gottes verständlich machen. Sowohl die Lehre vom Seelenfünklein, das als ungeschaffenes immer schon mit Gott geeint ist, als auch die Rede von der Gottesgeburt in der Seele sind Interpretationen der prozessualen Einheit von Gott und Mensch. Eckhart will seine Hörer und Hörerinnen zu Einsicht führen, „dass wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat“ (Predigt 22).

Am eindruckvollsten wird diese Lehre, die theologische, ontologische und ethische Dimensionen umfasst, in der Predigt 6 ausgesprochen: „Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur.“ Die hier sich entfaltende Einheit von Anthropologie und Christologie im Sinne einer ständigen Menschwerdung (incarnatio continua) bildet das Herzstück nicht nur der Verkündigung, sondern auch der lateinischen Schriften, erklärt doch Eckhart in seinem Johanneskommentar, dass es wenig bedeutete, wenn das Wort „für die Menschen Fleisch wurde in Christus, jener von mir verschiedenen Person, wenn es nicht auch in mir persönlich (Fleisch wird), damit auch ich Gottes Sohn wäre“ (nach 117).

Diese beharrlich und eindringlich verkündete, neuartige Interpretation des Christentums, die nur insofern als Mystik bezeichnet werden kann, als mit diesem Begriff eine Lehre der Einheit von Gott und Mensch verstanden wird, versucht Eckhart mit verschiedenen Gedankengängen und Bildern zu verdeutlichen. Nicht nur die bereits angedeutete Beziehung von Gerechtigkeit und Gerechtem, die die platonische Ideenlehre aufgreift und transformiert, sondern auch die Theoreme zum Verhältnis von Urbild und Bild veranschaulichen die Einheit von Prinzip und Prinzipiat, Gott und Mensch, Sohn und Vater: Das Verhältnis der beiden Korrelate darf in keinem Fall als dingliches Gegenüber gedeutet werden, vielmehr muss es als ein dynamisches In-Sein gedeutet werden, das in der Predigt 16B synthetisch zusammengefasst wird: Das Bild empfängt sein ganzes Sein von dem, dessen Bild es ist, zugleich aber hat es ein Sein mit ihm und dasselbe Sein.

In einer anderen Predigt bezieht sich Eckhart auf das Gleichnis von Holz und Auge im Vollzug der Erkenntnis. Wer dieses Gleichnis verstehe, sagt Eckhart in der Predigt 48, der verstehe „den grunt aller mîner meinunge, den ich ie gepredigte". Wenn ich ein Stück Holz sehe, dann werden im Vollzug des Sehens die beiden eins. Was sich derart bereits im materiellen Bereich ankündigt, gilt umso mehr für den geistigen. Es gibt ein Licht in der Seele, die Vernunft, von der Eckhart in den Predigten zu sprechen pflegt, dieses Licht „nimmt Gott unmittelbar und unbedeckt und entblößt, so wie er in sich selbst ist".

Der Prozess

Um 1323 wurde Eckhart von der Ordensleitung nach Köln geschickt, um wahrscheinlich die Leitung des dortigen Generalstudiums zu übernehmen. Offensichtlich stand in der Provinz Teutonia zu dieser Zeit nicht alles zum besten. Jedenfalls hat Papst Johannes XXII. am 1. August 1325 zwei Visitatoren eingesetzt, denen die Aufgabe übertragen wurde, disziplinäre Klostervisitationen durchzuführen. Einer dieser beiden Abgesandten war Nikolaus von Strassburg, von dem eine philosophische Summe erhalten ist, die ihn als strengen Anhänger des Thomas von Aquino ausweist. Anlässlich der Visitation des Kölner Konventes wurden wahrscheinlich Beschuldigungen von Mitbrüdern gegen Meister Eckhart erhoben, die allerdings Nikolaus nach Prüfung entkräftet hat. Da diese Mitbrüder beim Visitator kein Gehör fanden, wendeten sie sich an den Kölner Erzbischof, Heinrich von Virneburg, der im April 1326 übrigens die Obrigkeit der Stadt Köln aufgefordert hatte, alle häresieverdächtigen Personen zu denunzieren. Aufgrund der Denunziation Eckharts durch Mitbrüder des Ordens, von denen zwei namentlich bekannt sind, es handelt sich um Hermann de Summo und Wilhelm von Nidecke, leitete der Erzbischof Mitte 1326 ein Inquisitionsverfahren ein, zu dessen Durchführung zwei Kommissare eingesetzt wurden, nämlich Reinher Friso und Peter Sommer, der gegen Ende des Jahres durch den Minoriten Albert von Mailand ersetzt worden ist.

Dank der einschlägigen und gründlichen Studien von Winfried Trusen ist es heute möglich, den in Köln eingeleiteten Prozess rechtshistorisch angemessen einzuordnen. Es handelt sich um einen Inquisitionsprozess per promoventem, das heißt aufgrund einer Denuziation. Der sogenannte Promotor des Verfahrens war verpflichtet der richterlichen Behörde Beweismittel vorzulegen. Zur Diskussion stand die mutmaßliche Häresie des Angeklagten. Im Laufe des Verfahrens wurden zwei Irrtumslisten von den Denunziaten erstellt, die die Anklage wegen Häresie belegen sollten. Die erste dieser Listen enthält verdächtige Sätze aus dem Buch der göttlichen Tröstung, das Eckhart für die Königin Agnes von Ungarn geschrieben hatte, aus einer nicht erhaltenen Stellungnahme Eckharts zu einer früheren Anklage gegen das Trostbuch, aus den Schriftkommentaren sowie aus den deutschen Predigten. In der zweiten Liste wird auf die Predigten des Meister Bezug genommen.

Zu beiden Listen ist Eckharts Verteidigung überliefert, die er anlässlich der Sitzung vom 26. September 1326 zu Protokoll gegeben hat und die als „Rechtfertigungsschrift“ bezeichnet worden ist. Im Laufe des Prozesses wurde eine dritte Liste mit Thesen aus dem Johanneskommentar zusammengestellt, die aber bis heute noch nicht aufgefunden worden ist. Von Anfang an hat Eckhart, das wissen wir durch das Protokoll der Sitzung vom September 1326, betont, dass er das Kölner Gericht nicht als zuständig erachte und zwar als Mitglied des Ordens, der direkt dem Hl. Stuhl unterstellt war, und als Magister der Pariser theologischen Fakultät. Er beteuert auch seinen Willen zur Rechtgläubigkeit: „Irren kann ich nämlich, aber Häretiker kann ich nicht sein, denn das erste gehört zum Intellekt, das zweite zum Willen.“ Seinen zuerst durch Nikolaus von Strassburg formulierten, dann aber, am 24. Januar 1327 von seinem Sekretär vorgelesenen Appell an den Heiligen Stuhl, haben die Kölner Kommissare abgelehnt (22. Februar 1327).

Trotzdem verließ Eckhart mit einer kleinen Gruppe von Mitbrüdern, unter ihnen der Provinzial Heinrich von Cigno, im Frühjahr 1327 Köln und begab sich nach Avignon, dem damaligen Amtssitz der Päpstlichen Kurie, wo eine vom Papst eingesetzte Theologenkommision die Rechtgläubigkeit des Meisters untersuchte und ihn verhörte. Das heute noch erhaltene Gutachten dieser Kommission (sog. Votum Avenionense) gelangte zur Überzeugung, dass die 28 Sätze, die von den verschiedenen Listen schließlich übriggeblieben waren, „in ihrer äußeren Form der allgemeinen Glaubensüberzeugung widersprachen“ (Trusen). Gemäss der juristischen Fachsprache sind sie dem Wortlaut nach häretisch (verba prout sonant).

Das Verfahren findet mit der Bulle „In agro dominico“ vom 27. März 1329 seinen endgültigen Abschluss. Darin zensuriert Papst Johannes XXII. 29 Sätze, von denen 17 als häretisch bezeichnet werden, die restlichen 11 Artikel nennt das Dokument übelklingend, sehr gewagt und häresieverdächtig. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bulle war Eckhart bereits tot. Er ist wahrscheinlich Anfang 1328 in Avignon gestorben. Das päpstliche Schriftstück hält zudem fest, dass er vor seinem Tode die verdächtigen Artikel widerrufen habe.

Die richtige historische Einschätzung und Deutung des Prozesses sowie der damit verbundenen kirchlichen Verurteilung bietet einige nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Es ist gewiss richtig, wie die neuere rechtshistorische Forschung betont, dass im Gegensatz zum Kölner Verfahren, in Avignon nicht die Person Eckharts, sondern Sätze aus seinem Werke auf ihre Orthodoxie hin geprüft wurden. Fraglich ist, inwieweit die verurteilten Sätze tatsächlich die Grundgedanken Eckharts spiegeln. Eine genauere Prüfung der fraglichen Artikel bestätigt, dass die Bulle durchaus wesentliche Aspekte der Doktrin Eckharts trifft, insbesondere die innovatorische Lehre von der Gottesgeburt im Menschen.

Die Tatsache, dass Eckhart in der Präambel vorgeworfen wird, er habe seine gefährlichen Auffassungen „vor dem einfachen Volke in seinen Predigten“ gelehrt, sollte in ihrer Tragweite nicht unterschätzt werden. Der Meister selbst hatte zu diesen nicht nur ekklesiologisch, sondern auch bildungsgeschichtlich überaus bedeutsamen Punkt bereits früher, in einem Text, der die Kennzeichen einer Apologie trägt, Stellung bezogen: „Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann niemand dann lehren und schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, dass sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden. Gäbe es nichts Neues, so würde nichts Altes“ (Buch der göttlichen Tröstung, Schluss). Eckharts neue Konzeption des Christentums impliziert eine bahnbrechende Auffassung zur Stellung und Bildung der Laien in Kirche und Gesellschaft.

Meister Eckhart - in seiner Zeit. Der Artikel ist Teil einer PDF der Identity Foundation (S. 8-18), der auch andere Texte dieser Seite entnommen sind. I

Die Meister-Eckhart-Gesellschaft wurde zwar in Würzburg gegründet - am 24. April 2004 -, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit aber will sie sich in Köln vorstellen. Warum? Köln war die letzte Station von Eckharts öffentlichem Wirken. In Köln wurde er der Häresie angeklagt. In Köln hat Eckhart sich gegen den Vorwurf der Häresie verteidigt. In Köln und in der Diözese Köln wurde die Verurteilungsbulle Papst Johannes XXII. von den Kanzeln verlesen. In Köln auch haben sich Intellektuelle des Dominikanerordens um Eckharts Person geschart - Loris Sturlese nennt sie „Eckhartisten“1 -, die seine Schriften redigierten und verbreiteten. Man könnte meinen die Keimzelle einer Eckhart-Gesellschaft. In Köln auch vollzog die Katholische Kirche einen bemerkenswerten Wandel, freilich erst im 20. Jahrhundert und in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Im Jahre 1934 - vor genau 70 Jahren - gab jene Diözese, die Eckharts Verurteilung so nachdrücklich betrieben hatte, eine offizielle Bekanntmachung heraus, in der sie von einer „unschuldigen Schuld“ spricht, die man im 14. Jahrhundert begangen habe, und in der sie Eckhart voller Pathos als „eine der zartesten Blüten am weithinschattenden Baum der Weltkirche und eine der geistvollsten und lautersten Persönlichkeiten deutscher Katholizität“2 preist. Weder die dominikanischen „Eckhartisten“ des Mittelalters noch die neuzeitlichen kirchlichen „Konvertiten“ sind die Vorbilder der neuen Meister-Eckhart-Gesellschaft, sondern die wissenschaftliche Arbeitsgruppe um Josef Koch und Josef Quint, die mit der Schaffung der kritischen Gesamtausgabe, der Textedition, der Textkommentierung und der Übersetzung der edierten Texte ins Neuhochdeutsche, die Eckhartforschung und Eckhartdeutung auf eine neue, auf die eigentliche Grundlage gestellt haben. Um zu zeigen, daß sich die neue Eckhart-Gesellschaft von diesen Ursprüngen her versteht, will sie heute in Köln in das Licht der Öffentlichkeit treten. Die in Köln von Koch, Quint und ihren Mitarbeitern grundgelegte historische Eckhartforschung hat sich schnell ausgeweitet. Sie ist in Würzburg von Kurt Ruh und seinen Schülern durch Arbeiten zur Überlieferung und zum Publikum der Schriften Eckharts im Spätmittelalter ergänzt worden. Exakt historisch ausgerichtet sind auch die scharfen Analysen von Kurt Flasch und seinen Freunden zum intellektuellen Milieu Eckharts im engen Umkreis Alberts von Köln und Dietrichs von Freiberg. Ingeborg Degenhardt hat nicht zu Unrecht beobachtet, daß die große kritische Gesamtausgabe von Eckharts Werken die Mehrzahl der Eckhartforscher „in schöner Eintracht“ vereinte und auch „die Interpretationen mehr auf die Texte (konzentrierte)“3. Zeugnis dieser Entwicklung in die Zukunft ist das Interpretationsunternehmen „Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet“. So gilt nicht nur für die Predigten, sondern für alle Schriften Eckharts, was Kurt Flasch fordert: „Wer Eckhart kennenlernen will, hat Anlaß, sich zur Textnähe zu ermahnen“4.

II

Vor wiederum genau 70 Jahren wurde in einer Sitzung der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der späteren deutschen Forschungsgemeinschaft, im Berliner Schloß unter dem Vorsitz ihres Präsidenten, des Staatsministers Schmitt-Ott der Beschluß gefaßt, eine Gesamtausgabe der Werke des „großen deutschen Denkers und Mystikers“5 zu veranstalten. Anvertraut war diese Ausgabe einer Eckhart-Kommission der deutschen Forschungsgemeinschaft, die von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angeregt wurde, und deren einzige Aufgabe darin bestand, den Fortgang der Ausgabe zu organisieren, geeignete Wissenschaftler einzustellen und die benötigten Geldmittel zu beantragen. Unter dem Vorsitz von Erich Seeberg fand sich ein Forscher-Team zusammen, dem nahezu alle prominenten Vertreter der deutschen Eckhartforschung angehörten: Germanisten, Philosophie-historiker und Theologen beider christlicher Konfessionen. Diese Kommission, eine Vorform der Meister-Eckhart-Gesellschaft, bestand bis 1980. Sie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgelöst, als sich abzeichnete, die Eckhart-Ausgabe könnte zu ihrem Ende kommen. In der 2004 gegründeten Eckhart-Gesellschaft lebt die alte Eckhartkommission nicht wieder auf. In dieser hatten die Wissenschaftler der einzelnen Disziplinen nie recht zusammengefunden. Historiker waren überhaupt nicht eingebunden. Unsere Gesellschaft macht den Versuch, aus der Stärke der methodischen Ansätze eines jeden Faches heraus, mit Wissenschaftlern all jener Fachdisziplinen, die an Eckhart interessiert sind, zusammenzuarbeiten, mit Philosophen, Theologen, Literatur- und Sprachwissenschaftlern, Historikern, Mystikforschern, Naturwissenschaftlern, Psychologen, Psychotherapeuten, Kunstwissenschaftlern, und warum nicht auch mit Önologen. Eckhart hatte eine gute Meinung vom Wein. In der Predigt 10 schreibt er: „Aber der Mensch, der von inwendigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht, was Gott ist. Wie ein Mann, der Wein in seinem Keller hat, aber nichts davon getrunken noch versucht hätte, der weiß nicht, daß er gut ist. So auch steht es mit den Leuten, die in Unwissenheit leben: die wissen nicht, was Gott ist, und doch glauben und wähnen sie zu leben“6.

III

Ingeborg Degenhardt läßt es in der Schlußbetrachtung ihrer „Studien zum Wandel des Eckhartbildes“ offen, ob sich künftig „das Interesse an Meister Eckhart endgültig auf die Ebene streng wissenschaftlich orientierter Forschung verlagert“. „Doch hier läge gerade die Aufgabe“7, meint sie. Es tut der strengen Wissenschaft keinen Abbruch, wenn sie das breite Interesse an Meister Eckhart offenhält, ja fördert. Dies hatten so auch die Mitglieder der Eckhartkommission gesehen, die die Herausgeber der lateinischen und mittelhochdeutschen Werke Eckharts drängten, „eine Übersetzung mit der Edition zu verbinden“8, damit auch interessierte Laien Zugang zu den Schriften und zum Denken Eckharts finden könnten. Damit entsprachen sie sogar der Intention Eckharts, der deutsch predigte und deutsche Bücher schrieb und der wollte, daß höchstes Wissen Ungelehrten nicht vorenthalten werden sollte. Ich zitiere Eckhart: „Auch wird man sagen, daß man solche Lehren nicht für Ungelehrte sprechen und schreiben solle. Dazu sage ich: Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann niemand dann lehren oder schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden. Gäbe es nichts Neues, so würde nichts Altes“9. Nicht bloß Eckhart und die Eckhartkommission mit den edierten Texten wollen in die Breite wirken, auch die Eckhart-Forschung mit ihren interpretierten Texten will dies. Die Herausgeber der Lectura Eckhardi sehen die Zeit reif, „die neueren Ergebnisse der Eckhart-Philologie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen“. „Die Nähe zum Text und die Lesbarkeit für ein breiteres Publikum“10 werden als „Leitprinzipien“ der Neuen Reihe herausgestellt. Dies ist eine programmatische Herausforderung für die ganze Eckhart-Forschung: ihre Ergebnisse so verständlich darzustellen, daß der Weg aus unserer Gegenwart zu den Texten und in die Lebens- und Denkwelt des Meisters aus Thüringen gefunden werden kann! Erstmals in der 600-jährigen Geschichte der Wirkung Eckharts finden jetzt Eckhart-Forscher und Eckhart-Freunde in einer Gesellschaft zusammen, die für beide inspirierend sein wird. Lebendig wird eine Gesellschaft nicht allein dadurch, daß sich jedes einzelne Mitglied Anregungen und Wissen durch Lesen verschafft, sondern durch Hören, Reden und Diskutieren untereinander bei Tagungen, Seminaren, Arbeitsgruppen (vor allem junger Leute und Wissenschaftler) und mittels der Kontakte über eMail und Internet und nicht zuletzt durch persönliche Begegnungen. Das Leben der Gesellschaft wird unweigerlich geprägt werden durch das Denken und den Geist Eckharts. Die Prägung geht also nicht von den Wissenschaftlern innerhalb der Gesellschaft aus. Diese erschließen nur durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten den authentischen Eckhart und den ganzen Eckhart, sie veranstalten vor allem keine Meditationsübungen und Einführungskurse zu Eckhart. Es bleibt jedem Einzelnen überlassen, ob und wie er als denkendes und eigenverantwortliches Individuum Eckharts Einsichten in sich ›gebären‹ lassen will. Die Gesellschaft als Ganze ist übernational ausgerichtet und konfessionell nicht gebunden, sie achtet die Überzeugungen und Lebensformen aller Religionen sowie jedes einzelnen Menschen; und sie will sich in dieser Toleranz und Kultur des Umgangs miteinander als Gesellschaft Eckharts erkennen lassen.

IV

Als Personengesellschaft hat die Meister-Eckhart-Gesellschaft eine genuine Aufgabe, in der sie sich von vergleichbaren Gesellschaften nur in Nuancen unterscheidet. Die Deutsche Dante-Gesellschaft bestimmt als ihre Aufgabe, „das geistige Erbe des Dichters und Denkers Dante Alighieri im deutschen Sprachgebiet lebendig und wirksam zu erhalten“11. Die Nicolaus Cusanus-Gesellschaft erkennt als ihr „Ziel, die Erforschung des geistigen Werkes des Kardinals Nikolaus von Kues durch ideelle und materielle Förderung zu unterstützen und ihm eine allgemeine und vertiefte Wirkung zu verschaffen“12. Um ihr Gesellschaftsziel zu erreichen, stellt sich die Deutsche Dante-Gesellschaft fünf Aufgaben:

  1. Sie veranstaltet Versammlungen mit Vorträgen. Das wollen wir auch.
  2. Sie gibt ein Jahrbuch, wissenschaftliche Schriften und ein Mitteilungsblatt heraus. Auch das wollen wir.
  3. Sie unterhält eine wissenschaftliche Bibliothek zum Studium von Leben und Werk Dantes und der Geschichte seiner Zeit. Statt einer Bibliothek bieten wir auf unserer Homepage ein breites Spektrum an Information für die wissenschaftliche Forschung und die individuelle Benutzung, vor allem eine komplette Bibliographie aller Publikationen zu Leben und Werk Eckharts, vorerst für die Jahre 1997-2004.
  4. Sie fördert wissenschaftliche Forschungen und Arbeiten. Das wollten wir auch gern. Haben aber dafür vorerst kein Geld.
  5. Sie gibt Anregungen und bietet Unterstützung für Dante-Vorlesungen und -Vorträge an Universitäten, Schulen und Erwachsenenbildungsstätten. Wir beschränken unsere Energien auf den universitären Bereich.
Die Cusanus-Gesellschaft nennt in ihrer Satzung ebenfalls fünf Aufgabenbereiche, sie sind solche der Forschung und gruppieren sich ausschließlich um die große Gelehrtengestalt des Cusanus und seines Werkes mit Akzentuierung von dessen Wirkung auf die heutige Zeit.

Diese traditionellen Ziele in den Satzungen zweier vergleichbarer Gesellschaften lauten bei der Meister-Eckhart-Gesellschaft so:

  1. Erforschung und Darstellung von Eckharts Leben und Wirken in seiner Zeit
  2. Erforschung und Darstellung von Eckharts Lehre in seinen Schriften
  3. Erforschung und Darstellung von Eckharts geschichtlicher Herkunft, von Eckharts Wirkung und von Eckharts Aktualität
  4. Unterstützung von Forschungsunternehmungen zu diesen drei Zielen.
Im Unterschied zu Dante und Nicolaus Cusanus gab es um die Person Eckharts und die Deutung seiner Lehre durch die Jahrhunderte hin die leidenschaftlichsten Kämpfe und Aneignungsversuche in unterschiedlichste Richtungen hin. So schreibt 1858 Schopenhauer in einem Brief an den Juristen von Doß: „Ich lese jetzt den Meister Eckhart, herausgegeben von Pfeiffer 1857. Höchst interessant und ein rechter Beleg zu meiner Philosophie“13. In seinem handschriftlichen Nachlaß kann man dann lesen: „Buddha, Eckhard und ich lehren im Wesentlichen das Selbe, Eckhard in den Fesseln seiner christlichen Mythologie. Im Buddhismus liegen dieselben Gedanken, unverkümmert durch solche Mythologie, daher einfach und klar, soweit eine Religion klar sein kann. Bei mir ist die volle Klarheit“14. Schon Josef Quint ahnte, daß erst dann die Eckhart verfälschenden Adapationen und Aktualisierungen überwunden werden könnten, wenn das gesamte lateinische und deutsche Werk Eckharts in einer zuverlässigen Ausgabe erschlossen, die Chronologie der Werke annähernd durchschaut und die innere gedankliche Entwicklung Eckharts erhellt wäre15. Auch Kurt Flasch äußert sich, etwas zurückhaltender, in diesem Sinne: „Nachdem die Edition der lateinischen Werke und der deutschen Predigten nahezu abgeschlossen ist, kann die Beschäftigung mit Eckhart in ein neues Stadium treten“16. Und jetzt auch ist die Zeit erst gekommen, eine Meister-Eckhart-Gesellschaft zu gründen, die es als ihre Aufgabe ansehen kann, aufzuzeigen und zu vermitteln, was Eckhart dachte, was er wollte, was er tat, wer er war, und was wir an Eckhart haben. Es war Claude Lévi-Strauß vorbehalten zu sagen, anläßlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an ihn im vorigen Jahr, daß der „große deutsche Denker“ nicht allein den Deutschen gehöre, sondern auch „ein wenig uns“, den Franzosen. Und er zählt Eckhart zu den „vielen großen Geistern“, die „eine Brücke zwischen Frankreich und Deutschland geschlagen haben“. „Wahrscheinlich wäre aber“, so wörtlich, „der Name von Meister Eckhart historisch gesehen der erste und auch der umfassendste aufgrund der Verbindung zwischen Erfurt und Paris, zwischen seinen religiösen Gedanken und seiner Philosophie“17. Der große Ethnologie weiß zudem, daß Eckhart auch eine Brücke zu Japan schlägt. Deshalb, und weil Eckhart heute ein bevorzugter Partner im interreligiösen und interkulturellen Gespräch ist, will sich die Meister Eckhart-Gesellschaft nicht allein als deutsche und europäische, sondern als internationale Gesellschaft verstehen.

V

Schließlich hat die Meister-Eckhart-Gesellschaft eine weitere Aufgabe: Sie kann sich selbst nur erhalten aus den Einnahmen der Mitgliederbeiträge und aus erhofften Spendenzuwendungen. Die frühere Eckhartkommission konnte mit den Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft disponieren. Die Cusanus-Gesellschaft finanziert sich aus Zuwendungen des Landes Rheinland-Pfalz, der Kirche und privater Stiftungen. Die Meister Eckhart-Gesellschaft hat diese Finanzbasis nicht, noch nicht. Sie will sich diese durch den Aufbau eines Sponsoren-Ringes schaffen. Dieser Aufbau kann nur gelingen, wenn wir vor allem Privatpersonen, aber auch Institutionen davon überzeugen können, daß es die Meister Eckhart-Gesellschaft wert ist und daß es sich die Sponsoren selber wert sind, in unsere Gesellschaft zu investieren. Vielleicht bringen wir über Einzelspenden und über kleine und kurzlaufende Spendenverträge (zum Beispiel 100 Euro 5 Jahre lang) die benötigten Summen zusammen, um unsere Ziele zu erreichen. In das Buch der Mäzene unserer Gesellschaft haben sich bereits eingetragen, durch Zuwendung namhafter Beträge, Herr Dr. Hans-Jörg Leuchte (Berlin), Herr Paul Kohtes (Düsseldorf) und der Sprecher des Vorstandes der HypoVereinsbank (München), Herr Dieter Rampl. Ihnen ist es zu danken, daß wir heute in Köln die Gründungsfeier der Meister-Eckhart-Gesellschaft veranstalten und nächstes Jahr am 9. und 10. April in Erfurt unsere erste Jahresversammlung abhalten können. Das große Ziel aber muß es bleiben, daß wir als Gesellschaft mithelfen können, das Eckhartwissen für viele und die Eckhartforschung durch einzelne zu fördern, und das heißt vor allem: die Jugend und junge Wissenschaftler anzustacheln, Eckhart kennen zu lernen und erstklassige Eckhart-Forschung zu treiben. „Gäbe es nichts Neues, so würde nichts Altes“.

Köln, 26. November 2004 Georg Steer

1 Loris Sturlese, Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts, in: Die Kölner Universität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Band 20), Berlin-New York 1989, S. 192-211.
2 Studien zum Mythos des XX. Jahrhunderts (Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln. Amtliche Beilage), Köln 1934. Dritter Nachdruck: (Amtsblatt des bischöflichen Ordinariats Berlin. Amtliche Beilage), Berlin 1935. [III. Teil Zum Eckehart-Problem: S. 113-144.], hier S. 144.
3 Ingeborg Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie III), Leiden 1967, S. 326.
4 Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli (Reclam-Universal-Bibliothek 8342), Stuttgart 1986, S. 407.
5 Magistri Echardi Sermones. Herausgegeben und übersetzt von Ernst Benz, Bruno Decker und Josef Koch (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Vierter Band), Stuttgart 1956, S. VII.
6 Meister Eckharts Predigten. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. Erster Band (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Herausgegeben von Josef Quint. Erster Band), Stuttgart 1958, S. 164,5-9: Aber dem menschen, der von inwendigen dingen nie gewon enist, der enweiz niht, waz got ist. Als ein man, hât er wîn in sînem keller und enhæte er sîn niht getrunken noch versuochet, sô enweiz er niht, daz er guot ist. Alsô ist den liuten, die in unwizzenne lebent: die enwizzen niht, waz got ist und sie dünket und wænent leben. Übersetzung Quints S. 468.
7 Ingeborg Degenhardt (Anm. 2), S. 327.
8 Magistri Echardi Sermones (Anm. 3), S. VII.
9 Meister Eckharts Traktate. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. Fünfter Band (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Herausgegeben von Josef Quint. Fünfter Band), Stuttgart 1963, Das buoch der götlîchen trœstunge S. 8-61, hier S. 60,27-61,1: Ouch sol man sprechen, daz man sôgetâne lêre niht ensolsprechen noch schrîben ungelêrten. Dar zuo spriche ich: ensol man niht lêren ungelêrte liute, sô enwirt niemer nieman gelêret, sô enmac nieman lêren noch schrîben. Wan dar umbe lêret man die ungelêrten, daz sie werden von un- gelêret gelêret. Enwære niht niuwes, sô enwürde niht altes. Quints Übersetzung S. 497.
10 Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Herausgegeben von Georg Steer und Loris Sturlese, Band I, Stuttgart-Berlin-Köln 1998, S. VII.
11 Deutsche Dante-Gesellschaft, Satzung vom 1. Oktober 1983.
12 Cusanus-Gesellschaft, Satzung vom 4. November 1994.
13 L. Schemann, Schopenhauer-Briefe, Leipzig 1898, S. 13.
14 Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß, hrsg. von J. Frauenstädt, Leipzig 1864, S. 432.
15 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, München 1963, S. 23.
16 Kurt Flasch (Anm. 3), S. 407.
17 Claude Lévi-Strauss, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preis am 2. Dezember 2003 in Paris, in: Meister-Eckhart-Preis, Schriftenreihe der Identity=Foundation, Band 9, März 2004, S. 31.
Ziele und Aufgaben der Meister-Eckhart-Gesellschaft